32 Tage und ein Frühstück

Klaus Sattler ist im Countdown-Modus angekommen. Er zählt rückwärts. Noch fünf Wochen Afghanistan, dann ist Schluss mit der Zeit, in der es kein freies Wochenende gab; Schluss mit dem Privatleben, das nach Dienstschluss auf zwölf Quadratmetern in einem Dreimanncontainer stattfand. Schluss mit dem Kantinenessen, das zwar nicht schlecht ist, aber irgendwann keinerlei Variation mehr bietet. Schluss mit der Zeit, wo der Italiener nebenan Uniform trägt, aber keinen Pizzaofen bedienen kann.

Informationsmeister

Klaus Sattler, Oberstabsfeldwebel, stammt aus Goch, ist in Kalkar stationiert und ist Informationsmeister des Einsatzgeschwaders Mazar-e Sharif in Afghanistan. (Informationsmeister – das würde man in Deutschland mit „Pressesprecher“ übersetzen.) Er ist einer von insgesamt 4.500 deutschen Soldaten, die fern der Heimat Dienst tun. Auf der Grundlage der Resolution mit der Nummer 1.623 beteiligt sich die Bundeswehr seit dem Jahr 2002 an der NATO-geführten ISAF.

ISAF steht für International Security Assistant Force. Die ISAF-Kräfte – so heißt es von offizieller Seite, „unterstützen die afghanische Regierung bei der Wahrung der Menschenrechte sowie der Herstellung und Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit. “ Im Jahr 2008 wurde der deutsche Afghanistaneinsatz – ausgestattet mit einem Bundestagsmandat – um 18 Monate verlängert.

Reserven

Sattler gehört zum nunmehr 21. Kontingent in Mazar. Anfangs war die Verweildauer eines Kontingents auf sechs Monate festgesetzt – später kürzte man auf vier Monate. An Sattlers Bürotür steht: PIZ steht für Presse- und Informationszentrum. Sattler also ist das Zentrum, und das Zentrum hat ein Reihe von Aufgaben. Allmorgendlich die erste Mission: Erstellen des Pressespiegels. Sattler stellt die wichtigsten Informationen zusammen, die sich zum Thema Afghanistan und oder Bundeswehr frisch aus dem Netz ziehen lassen.

Um 5.30 Uhr ist er an seinem Arbeitsplatz. 130 Tage lang. Am Anfang war es sogar noch eine Stunde früher. „Irgendwann hast du die Reserven aufgebraucht. Dann geht's ans Eingemachte.“ Diesen Zustand hat Sattler jetzt erreicht. 130 Tage aufstehen um fünf und Dienst bis in den Abend - das hinterlässt Spuren. „Abends bist du dann einfach auf. Duschen - ab in die Falle.“ Das Ganze sieben Tage die Woche. Klaus Sattler ist kein Einzelfall im Camp Marmal.

Es wird allgemein viel geschafft. Rumhängen ist nicht. Wer das Camp besucht, begreift schnell: Alles Schlechte hat auch sein Gutes. Heißt: Arbeit ist so ziemlich das einzige, das gegen die Camp-Tristesse hilft. An einem solchen Ort willst du nicht wirklich viel Freizeit haben. Weit über 90 Prozent der Camp-Besatzung wird das Camp während des gesamten Einsatzes nicht verlassen.

Türsturz und feuchte Augen

Sattler hat Glück: Wenn die Presse einrückt, ist er ein Teil des „Unterhaltungsprogramms“. Da kann es sein, dass er raus kommt – auf Patrouille. Sattler ist aber nicht nur zuständig für die Texte der anderen – er schreibt natürlich auch selber. Geschichten aus  dem Einsatz. Er hat über den Kampfmittelräumdienst geschrieben, der mit eigenen Hunden unterwegs ist. Zum Dank haben sie ihm ein Foto gerahmt: Es zeigt die Hunde und ihren Pfotenabdruck in blauer Tinte. „Da hatte ich dann bei der Übergabe feuchte Augen.“

Es gibt andere Geschichten: Die Geschichten aus den Dörfern in der Umgebung des Camps, wo zum Teil beim Hausbau alte russische Granathülsen als Fenster- und Türstürze verwenden. Die Truppe hat ein Programm aufgelegt, bei dem die „Hausbaumunition“ gegen Bauholz getauscht wird. Mehrmals schon Klaus Sattler bei Patrouillen dabei gewesen und hat, wenigstens ein bisschen – Land und Leute kennengelernt. „Das sind Lebensumstände – kaum vorstellbar.“ Einige der Bilder, die er gemacht hat, wird er seinen Söhnen zeigen. „Viele von uns wissen doch gar nicht, wie gut es ihnen geht“, sagt Sattler. Sattler sagt: „Wenn du das hier gesehen hast, denkst du über dein Leben nach.“ Zum „Opferfest“ war er mit dem Kommandeur in Mazar unterwegs. Sie haben zwei Gefängnisse besucht und ein Waisenhaus. Geschenke vorbeigebracht. Bilder, die im Kopf bleiben. Geschichten, die man nicht mit der nächsten Dusche abspült.

Andenken und Sandsäcke

Sattler fotografiert. Sattler schreibt. Sattler ist auch für das sogenannte Kontingentbuch zuständig. Das Kontingentbuch – flapsig gesprochen eine Art Abizeitung für die Mitglieder eines jeweiligen Kontingents – ist eine Art Zusammenfassung in Wort und Bild. Ein Erinnerungsstück – heiß begehrt bei den Soldaten. Bevor Sattler Afghanistan verlässt, wird er das Buch für das 21. Kontingent zusammengestellt haben.

Sattler sagt: „Im Camp hast du alles Lebensnotwendige.“ Stimmt: Verhungern muss hier keiner. Auch die medizinische Versorgung ist hervorragend. Die Klinik des Camps kann es mit jedem Kreiskrankenhaus in der Heimat locker aufnehmen.

Trotzdem strahlt das Camp seine ureigene Form von Tristesse aus. Das fängt an beim Grün. Pflanzen: Fehlanzeige. Marmal – das sind Lagerstraßen, Wohncontainer, Militärfahrzeuge und ... sonst nichts. Doch: es gibt Sandsäcke vor den Unterkünften und da, wo keine Container stehen, liegt Kies. Die Container heißen hier Shelter. Es gibt kein Gras. Keine Bäume. Nichts. Die Shelter: Ein Gang in der Mitte – rechts und links davon auf jeder Seite 16 Container. 32 Container, von denen drei als Sanitärcontainer genutzt werden. In den anderen wohnen auf jeweils zwölf Quadratmetern drei Soldaten. Wenn ein Container nur doppelt belegt ist, beginnt der Luxus. „Einzelzimmer“ kommen kaum vor. Die Militärseelsorger beispielsweise genießen den Luxus einer Einzelunterkunft.

Das Leben auf einer Dreimannstube lässt keinen Platz für Privates. Der Arbeitstag erst recht nicht. Pro Tag gönnt sich Klaus Sattler einmal die heilige Viertelstunde: Telefonieren mit daheim. Gespräche mit der Lebensgefährtin, den beiden Söhnen. Den Kontakt nach Hause müssen sich die Soldaten etwas kosten lassen. Das sorgt bisweilen für Unmut. „In Sachen Truppenbetreuung kann unsere Führung noch jede Menge lernen“, sagen viele im Camp. Bei den Amerikanern ist das Telefonat mit der Heimat kostenfrei. Dafür müssen die Jungs aus den USA dann auch schon mal ein Jahr in den Einsatz.

Zuschlag steuerfrei

Immerhin: Für Auslandseinsätze bekommen die Soldaten einen Auslandsverwendungszuschlag . In Afghanistan liegt er bei 110 Euro. Pro Tag. Steuerfrei. Der reguläre Sold kommt extra. So viel steht fest: Viel Möglichkeiten, sein Geld auszugeben, hat ein Soldat nicht. Selbst die Raucher müssen sich keine Sorgen machen. Die Stange Zigaretten kostet gerade mal elf Euro. Rauchen darf jeder nach Herzenslust – draußen vor der Tür, versteht sich. Mit dem Alkohol sieht die Sache anders aus. Pro Mann und Tag sind zwei Dosen Bier erlaubt. Getrunken werden dürfen sie zwischen 20 und 22 Uhr. Danach ist Schluss. Höhepunkt des Aufenthalts ist nicht selten die Abfliegerparty. Handlungsanweisung: Wer geht, gibt einen aus. Oder zwei. Kann passieren, dass einer zwanzig Leute einlädt. Macht vierzig Dosen Bier. Aber nicht alle Gäste sind Bierfreunde. Das überprüft niemand. Exzesse kommen trotzdem so gut wie nicht vor.

Abflug

Natürlich denkt auch Klaus Sattler längst an seine Abfliegerparty. Wie gesagt: Der Mann läuft im Countdownmodus. Der Bildschirmschoner des PIZ-Computers zählt rückwärts: Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten, Sekunden. Und er zählt aufwärts: Beim Ausrechnen der Auslandszulage. Das muss erlaubt sein. So viel steht fest: Ein Camp wie das in Mazar-e Sharif ist nicht eben ein Spaßproduzent. Wer hier vier Monate verbringt, darf keine Ansprüche stellen – nicht damit rechnen, am Wochenende mal in der nächsten Stadt einen drauf zu machen. Fußballfans treffen sich und sehen sich bei einem Bierchen die Bundesliga an. Wenn’s denn passt. Mazar ist dreieinhalb Stunden vor der deutschen Zeit. Wenn der Dienst es nicht zulässt – und das kann schnell passieren – ist auch die „Wochenendunterhaltung“ im Eimer.

Sonntags frei – das ist im Camp Marmal die blanke Utopie. Sattler freut sich auf Zuhause. Auf die Freundin. Auf seine Jungs. Auf ein Fußballspiel im Stadion. Auf zwei Wochen Urlaub. Die wird er machen. Garantiert. Man kommt nicht so schnell an. Vielleicht wird er sich ein neues Auto leisten. Mal sehen. Einer der schönen Augenblicke: Als sein Nachfolger anrief. Erste Einweisungen am Telefon: Tu dies, lass jenes. Aber vor allem: „Werd bloß nicht krank.“ Ausgereist wird hier erst, wenn die Ablösung vor Ort ist. Die Chancen für Sattler stehen gut, dass er Anfang März den Heimflug antreten wird. Einmal hatter er einen echten Hänger: Heilig Abend. Dass er den Karneval verpasst: Nicht zu ändern. Der Countdown am 29. Januar verzeichnet noch 33 Tage – genau genommen: 32 Tage und ein Frühstück. Drei Shuttleflüge gehen pro Tag nach Termez. Wer den ersten erwischt, muss um 5.45 Uhr zum Einchecken. Das ist keine Traumzeit, aber wenn am Handgepäck der Zettel "ISAF OUT" hängt, ist alles andere Nebensache.

Sattler

 


Heiner Frost
Erstellt: 01.02.2010, letzte Änderung: 01.02.2010