Pausenbach

Schön kalt

 Das Thermometer zeigt Minusgrade. Die Landeshauptstadt friert. Macht nix: Es gibt ja Ballett in der Deutschen Oper. Die Kunst der Fuge wird getanzt. Na bitte - das ist doch mal was anderes in der Vorweihnachtszeit. Kein Nussknacker, kein Schwanensee – Bachs Maurervermächtnis wird gegeben. Das Stück, von dem es heißt: Theoretischer kann nichts mehr sein. Absoluter auch nicht. Musik, fernab von Programmen und Geschichten. Musik in der direkten Umgebung des emotionalen Gefrierpunktes. Nichts für Pseudofans. Nichts für die Boutique im Weihnachtstaumel. Notenhardcore in reinster Ausprägung. Töne für den Verstand ...


Vorturnen

 Beginn neunzehndreißig. Um neunzehnzwanzig der erste Gongschlag. Die Erlesenen bewegen sich. Hauptstadtpublikum auf dem Weg zur Abendunterhaltung. Auf der Bühne machen sich die Tänzer warm. Vorturnen. Tanz ohne Musik ist eine besondere Form der Pantomime. Während vorne noch geturnt wird, trifft das Publikum ein, die Programmhefte in der Hand. Zwei Stunden wird der Abend dauern – Pause inbegriffen. Anschließend darf gefeiert werden. Davon kündet ein blauer Einlegestreifen im Programmheft. „Feiern Sie mit! Im Anschluss an die Premiere feiern Künstler und Publikum gemeinsam im Foyer.“ Gemeinsam – die Worthülse des Jahres, abgebrannt in hunderten politischer Reden. Ein Wort ohne Rückgrat, aus lauter Weichteilen bestehend ...


b.02

 Das Programmheft in sattem Blau trägt die Aufschrift ‘b.02’. Das klingt ein bisschen nach einem Gebäudetrakt im Sozialamt. Darunter – klein: Kunst der Fuge, Martin Schläpfer. Ach, der hat das also komponiert. Fußnotenhaft am unteren Heftrand ein O mit einer stilisierten Welle darunter. Ein bisschen sieht es aus wie ein gemeinsames Signet von Telefonanbieter und Kaffeeröster. Egal. Es geht schließlich um anderes. Immerhin: Der Innenteil des Programmheftes beginnt mit der Erwähnung des Zurverfügungstellers der abendlichen Tanzmusik.


Von links

 Die Bühne offen, umlaufen von einem Regenbogenmotiv aus Blau, Rot und Schwarz. Das Programmheft verzeichnet Aufnahmen. Die Kunst der Fuge wird gestrichen, geblasen, getastet – Violine, Viola, Cello. Blockflöten, Saxophone, Cembalo und Klavier kommen zum retortierten Einsatz. Die Vorturner verlassen die Bühne. Dann – an der Rampe: Eine Gestalt: Still verharrend, das Publikum in die Stille zwingend. In die Stille injiziert: Der erste Kontrapunkt – gestrichen. Jetzt beginnt es. Kann man Bach erklären? Nicht wirklich. Da zeigt einer die Möglichkeiten der Töne. Bachs Töne kommen in Schlips und Kragen. Das Tanzensemble findet sich eher leicht bekleidet ein. Erzählen die jetzt eine Geschichte? Bestimmt.  Es ist – so viel scheint klar – nicht die Geschichte der Musik.  Bachs Kunst der Fuge hat keine Geschichte. Sie ist die Geschichte. Die Musik: Seitenlastig. Bach von links. Eine Botschaft?


Mixturen

 Es bilden sich aus dem Ensemble verschiedenste Gruppen und bespringen Bachs Fugenkunst. Nicht an eine Verbindung denken. Musik das Eine – der Tanz das Andere. Ab und zu: Die Andeutung einer Synchronizität. Dann atmet es von der Bühne. Die Kostüme? Sie wirken in dem Maße beliebig, wie es Töne nicht sein können. Kontrapunkt? Der Versuch, sich mittels Bewegung der Musik zu widersetzen ist ein vorprogrammiertes Scheitern. Das wird immer dann klar, wenn sich der Tanz in die Arme der Musik begibt, wenn Koproduktion stattfindet. Zusammensein. Gemeinsam – ein Unwortkandidat. Zwischenzeitlich: Catwalk auf der Bühne. Nur nicht die Musik und das Tun übereinanderdenken. Bachs Musik ist zwar auch ein Schaulaufen, aber eines, das sich fast unbemerkt vollzieht. Bachs Kunst spielt sich hinter dem Paravent ab. Im Vordergrund die Töne – im Hintergrund die Virtuosität.

 Auf der Bühne: Getanzte Geschichten, die sich nicht übertragen. Vielleicht ein bisschen auch deshalb, weil sich die Verbindung zwischen Bühnenbild, Kostümen und Geschichten nicht übermitteln will. Es schwebt ein Fragezeichen über allem.


Abgang

 Dann: Das letzte Stück vor der Pause: Contrapunctus 11. Jetzt wird ausgeglichen. Vorher waren die Tänzer da, als noch keine Töne waren – jetzt lassen sie die Bühne unbevölkert. Musik im Alleingang. Aber: Im Saal wird das Licht hochgefahren. Wie fernstgesteuert und von einem plötzlichen Durchfallvirus befallen erhebt sich das Hauptstadtpublikum und strebt dem Pausentee entgegen. "Gemma!" (Wir geh'n dann schon mal oder: Es stört uns sich nicht, wenn Sie essen, während wir rauchen.) Republikflucht aus dem Land der Fuge. Pausenbach. Grenzübertritt ohne Visum. Nahtlos soll es von der Kunst zum Schampus gehen. Sind Tanz und Musik nicht ohnehin nur Einleitung zum Eigentlichen? Das Eigentliche,  – jetzt wird es deutlich – ist die Pause. Vielleicht hat der Beleuchter aber auch nur zu früh den Finger auf den Knopf gelegt. Licht gemacht. Licht heißt: Pause. No matter what. Musik? Schmückendes Beiwerk. Hier tritt zutage, was als Effekt in der wirklichen Welt längst zum Üblichen geworden ist: Musik als Tapete. Als Nichts.  Ein bisschen ist es wie in der Oper. Wenn das hohe C abgestrahlt ist, darf applaudiert werden. Es stört ja nicht, wenn das Orchester noch zu arbeiten hat.

Das Programmheft vermerkt: " ... die tänzerische Aktion ist längst zu Ende, das Angebot an das Publikum besteht im reinen Hören - zu sehen gibt es nichts mehr." Angebot abgelehnt. Im Foyer sagt eine Dame, die sich auskennt: "Nach der Pause wird es leichter." Bach hat keine Champagnertöne. Vielleicht rührt daher die Ignoranz. Vielleicht darf man Bach nicht mögen, um das Sich-Wehren zu ertragen. Bach als Gegner - das ergibt keinen Sinn. Und wer weiß: Wenn man sich eingräbt in die Bewegungen - vielleicht ergibt das Handeln auf der Bühne dann einen Sinn, den man so nicht ahnt.

Applaus

 Der zweite Teil bringt den Funken. Jetzt tanzen sie Soli, Duette, Trios. Jetzt ergeben sie sich den Tönen, schütten Bewegung in die Fugen. Mit einem Mal gibt es ein Publikum. Es wird geklatscht. Verbindungen entstehen. Zauber macht sich breit. Jetzt endet das Vokabular. Jetzt wird Terrain erschlossen. Du musst dich nicht wehren gegen diese Musik. Die Erkenntnis: Ein Drachen kann nur fliegen, wenn am Boden jemand mit der Leine steht. Halt gibt. Schneidest du die Leine durch, folgt der Absturz unmittelbar. Absturz aber ist keine Kunst. Absturz ist Versehen.

 Auf der Bühne ist das Versehen dem Verstehen gewichen. Gedankenübertragung findet statt zwischen Rampe und Parkett. Vorher: Gemeinsames Vorhandensein. Jetzt: Kollektives Empfinden. Gefühlsübertragung. Ein Treffen im emotionalen Überbau.

 Dann: Das Ende. Klavier. Erstmals am Abend. Der Contrapunctus 14 in der Reduktion auf das Wesentliche. Es ist die Reduktion der Klanglichkeit. Die Aufnahme: Alt und topfig. Man muss sich hineinzwingen wie in ein zu enges Gewand. Danach das Gewand ausblenden und sich wegbeamen lassen in die an sich selbst zugrunde gehende letzte Fuge.

 Auf der Bühne kommt, was kommen muss: Nach und nach trifft das Ensemble ein. Sie sollen alle da sein, wenn es ans Ende geht. Natürlich kann man es so machen. Aber Bachs Schluss ist Subtraktion. Es wird nicht addiert.

 Dann versandet die Musik – tropft aus. Ein großer Geist verblutet. Hätten sie das Licht hochgefahren und die Bühne geleert – vielleicht hätten sich die Hauptstädtler ja applauslos davongestohlen. So geben sie sich dem Beifall hin. Blumen werden gebracht. Ein glückliches Ende. Ach nein: All das – nur Vorspiel zum après Ballett. Sekt und Selters im Foyer. Draußen Minusgrade und einer, der die Obdachlosenzeitung verkaufen möchte. Programmvorschlag: „Bach unter Brücken“. 


Heiner Frost
Erstellt: 21.12.2009, letzte Änderung: 21.12.2009