Nordwand

Brüternordwand

Auf einen Berg hat es Onat Nihdat bis jetzt noch nicht geschafft, aber so viel ist sicher: Auf seiner Brüternordwand würde er so manchen Profikletterer schlecht aussehen lassen. Garantiert.

45 Meter ist er hoch — der Turm, der einmal die Hitze des schnellen Brüters ableiten sollte. An der Außenseite des Beton-Monsters mit einem Durchmesser von 50 Metern darf geklettert werden. Der Architekt der Strecken: Onat Nihdat.

Im Anfang war der Beton

Wo heute die Kletterstrecken Richtung Kühlturmspitze zeigen, war vormals nichts als der nackte Beton. Zusammen mit einigen Kollegen begann Nihdat mit dem Streckenbau. Klartext: Schlagbohrmaschine und zu montierende Klettergriffe nebst Dübeln und Schrauben im Rucksack ging es in die Wand. Zur Erinnerung: Gipfelhöhe 45 Meter.

Aller Anfang ist leicht

Die ersten Meter der ersten Strecke — Kindergeburtstag: Loch bohren — Dübel einschlagen — weiter. Merke: Aller Anfang ist leicht. Trotzdem: Knochenarbeit. „Du musst mal versuchen, in diesen Beton zu bohren. Das ist schon am Boden schwer genug. Wenn du dich aber in zehn Metern Höhe mit einer Hand festhalten musst, um mit der anderen zu bohren“, erklärt Onat, „dann ist Schluss mit lustig.“

Natürlich war er während jeder Phase gesichert, aber „wenn du 100 Kilo heben sollst und jemand hält deine Hand, nützt das am Ende nicht wirklich viel.“

Zumal sich die Brüternordwand im oberen Drittel nach außen krümmt. Klettern und Bohren im Überhang. Allein der Blick nach oben, wenn Onat jetzt auf der schwierigsten Strecke dem Kühlturmrand entgegen klettert, sorgt für Bauchkribbeln.

„Klettern ist Kopfsache“, erklärt er. Na, dann is ja gut. Passiert ist in der Wand bisher noch nichts. Was allerdings vorkommt ist, dass jemand in luftiger Höhe plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommt.

„Jeder, der aufklettert, ist optimal gesichert“, erklärt Onat. „Wir haben ihn mit der Seilbremse voll unter Kontrolle. Wenn jemand oben Angst bekommt, muss er nur loslassen. Den Rest machen dann wir.“ Aber wen oben in der Wand die Angst packt, der kann nicht loslassen. Auch Loslassen ist Kopfsache. Aber der Instinkt ist stärker als der Verstand. Der Instinkt sagt: „Niemals loslassen! „

„Wenn einer dann oben in der Wand hängt, kann er nicht loslassen“, beschreibt Onat. „Da muss jemand von uns hoch und ihn runter holen, weil sich die Finger um den Griff krampfen. Da hilft kein Zureden.“

Das letzte Stück der Strecke ist das schwierigste. Beim Bauen musste Onat im Überhang zunächst die Löcher bohren. Das hatte er weiter unten schon getan. „Das Problem kam nach dem Bohren. Du musst ja den Dübel einstecken. Da du aber im Überhang steckst, rutscht der Dübel raus. Du musst ihn irgendwie mit dem Mund in die Wand drücken und dann mit dem Hammer den ersten Schlag tun.“ Danke fürs Gespräch.

Die Strecken, die mittlerweile den Turm empor führen, haben verschiedene Schwierigkeitsgrade. „Das erkennst du schon an den Namen“, erklärt Onat. Teletubbies — eine „Kinderstrecke“. „Da kletterst du mit Automat“, erklärt Onat.

Der Automat ist eine Seilwinde. Der Kletterer hängt in einer Art Hüftgürtel. Ein Haken wird eingehängt. Oben die Winde mit einer Fliehkraftkupplung wie ein Sicherheitsgurt. Sobald es ruckt, wird gebremst — danach geht es mit einem Meter pro Sekunde sanft abwärts. Es kann nichts passieren. Beim Automatenklettern ist irgendwo unterhalb der Kühlturmhälfte Schluss. In vierzehn Metern Höhe. Gleich neben dem Automat eine Glocke. Wer oben ist, schlägt an und seilt sich ab. Die Windhundstrecke macht Ohnat in 58 Sekunden. 45 Meter Höhenunterschied in weniger als einer Minute — entweder du bist durchtrainiert, oder daraus wird nichts.

Und oben gibt’s Sekt

Die schwerstren Strecken: Matrix und Extremo. Spärlich sind die Haken und Griffe in der Wand. Der Kletterer steht teils nur auf streichholzschachtelkleinen Vorsprüngen. Eine Hand hält den ganzen Körper.

Die Matrix ist bisher von ein paar Leuten bezwungen worden. Bei der Extremo ist Onat nach wie vor Solist. Wer es oben auf den Kühlturmrand schafft, findet eine Flasche Sekt und einen Gutschein für eine Übernachtung im Kernie Hotel. Sollte es einer schaffen, wird Onat eine schwierigere Strecke planen. Noch ist Zeit.

Und bevor es jemand schafft, wird Onat in diesem Jahr eine Tour nach Frankreich machen: Wirkliche Berge. Und dann mal sehen wie’s wird.

In der Brüternordwand jedenfalls ist er der König im Beton. Und wenn er wieder einmal Extremo bis oben geklettert ist und auf dem Kühlturmrand steht, ist das, wie Onat sagt, „ein ziemlich geiles Feeling“.

Klettern ist Kopfsache. Und für manchen Sterblichen reicht auch das Zuschauen. Merke: Man muss ja nicht alles nachmachen. Drüber schreiben reicht.



Heiner Frost
Erstellt: 18.03.2007, letzte Änderung: 18.03.2007