Wie
war das noch
gleich? Gut Ding will Weile haben. Groß Ding aber auch. Wenn
in Kleve die Firma
Winkels einen Koloss auf Reisen schickt (in Wirklichkeit spricht man ja
von
einer Kolonne), dann sind die Nachtaktiven gefragt, und das hat seinen
Grund.
Wo der Koloss rollt, ist Konkurrenz auf der Straße nicht mehr
möglich. Der
Riese erhebt Alleinigkeitsanspruch. Allenfalls sind die
Begleitfahrzeuge
erlaubt, die den Weg frei machen: Ampeln abbauen, Schilder
aushängen. Es hängt
ja jede Menge dran — am Koloss. Nicht nur Begleitung — auch Devisen,
denn: Ein
Koloss kommt nie zu spät. Könnte die Regel lauten.
Und manchmal ist es halt
wichtig, den Konjunktiv zu haben.
Kleve,
ein Montag,
21.15 Uhr. An der B 220 Richtung Emmerich stehen seit vier Tagen die
Halte- und
Parkverbotsschilder. Zwischen 22 Uhr und 1 Uhr, so die Schilder, wird
nichts
mehr gehen auf der Hauptschlagader des Klever Verkehrs in Richtung
Emmerich.
Wer dann noch fahren möchte, muss den Bypass nehmen. Nachts
ist das kein
Problem. Viel los ist nicht.
Vor
dem Werkstor
der Klever Firma Winkels herrscht Bombenstimmung. Alle wollen sie den
Koloss
auf Reisen sehen. Es sind Ferien. Da kann Paps endlich den Sohnemann
mitnehmen
und mal zeigen, was wirklich eine Harke ist. Diese Harke ist rund 70
Meter lang
und wiegt an die 500 Tonnen. Das sind 500.000 Kilogramm. Gelagert ist
der
Koloss — wie jedes Mal — auf zwei Lafetten. Same procedure as every
time. Alte
Hasen kennen sich aus — schließlich geht hier nicht der erste
Koloss an den
Start. Aber, da es ja nicht jeder wissen kann: Die Lafetten
heißen im
Fachchinesich, das heutzutage auf Englisch stattfindet „Self
Propelled Modular
Transporter“. Abkürzung: SPMT.
Viel
Hydraulik ist
im Spiel und viele Pferdestärken. 1.200 werden den Koloss in
Gang halten.
Schrittgeschwindigkeit ist angesagt. Jede der beiden Lafetten
verfügt über
einen eigenen Motorblock. Jeder der beiden Blöcke wiegt die
Kleinigkeit von 8
Tonnen. (Das wird noch von Bedeutung sein.)
Normalerweise
beginnt das Koloss-Ballett gegen 22 Uhr. Dann öffnet sich das
Werkstor, und die
Technik-Prozession setzt sich in Gang. Diesmal dauert es
länger. Niemand weiß,
was auf dem Hof los ist, aber Hektik ist spürbar. Kann sein,
dass irgendetwas
bei der Abnahme beanstandet wurde. Ein Koloss wird nicht einfach so auf
die
Straße gelassen.
Kurz
nach elf
öffnet sich das Werkstor. Längst ist die erste Ampel
abgebaut — längst sind
Straßenschilder, die den Weg des Riesen beengen
würden ausgehängt und liegen,
als würden sie ein Schläfchen machen, am
Straßenrand. Längst läuft das
logistische Vorprogramm des Abends: Straßen werden
abgesperrt. Gegenverkehr
unerwünscht. Verkehr überhaupt ist
unerwünscht.
Der
Koloss arbeitet
sich durch die Stadt. Alles funktioniert wie am Schnürchen.
Alle, die jetzt
hier arbeiten, kennen das Procedere in- und auswendig. Der Riese nimmt
die
Kurven fast schwerelos. Dabei steckt in der Kolonne, die dereinst zur
Säureproduktion in Antwerpen ihre neue Heimat finden wird,
genug Potential, um
ganze Häuserzeilen abzuräumen. Eine falsche Bewegung,
und der Koloss fährt
durch eine Hauswand wie ein Messer durch die Margarine.
Es
ist kurz vor
Mitternacht. Der Koloss hat die neuralgischen Punkte hinter sich. Jetzt
kommt
die Akkordarbeit: Rund sechs Kilometer geht es (mehr oder weniger)
geradeaus.
Dann, kurz vor der Rheinbrücke, rechts ab. In den Rheinwiesen
ist der Kolossschlafplatz.
Einen Tag später geht es aufs Schiff.
An
diesem Montag
allerdings laufen die Dinge anders. Rund 100 Meter vor der Kreuzung zur
Brücke
geht plötzlich nichts mehr. Der Koloss steht. Alles steht. Der
vordere
Motorblock ist ausgefallen. Wiederbelebungsversuche enden im
Nichts.
Es
beginnt: Der
Alptraum eines Schwertransportunternehmens. Verspätungen sind
nicht eingeplant.
Und: Verspätungen kosten hier richtig Geld. Vertragsstrafen
drohen. Die können
pro Tag bis zu 5 Prozent des Auftragsvolumens ausmachen.
Natürlich gibt es
'Höhere Gewalt', aber ein defekter Motorblock ist etwas
anderes. Wenn der
Koloss zu spät eintrifft, wird Winkels in Regress genommen.
Die werden sich das
Geld vom Transporteur zurück holen müssen.
In
Antwerpen warten
sie auf das Ding. Kräne sind gemietet. Der Aufbau soll
beginnen. Jede
Verzögerung belastet die Konten mit Wartezeit.
Noch
in der Nacht
werden Monteure von Mercedes angerufen. Die Notmaschinerie
läuft an. Die
Monteure werden kommen. Sie werden feststellen: HIer geht nichts mehr.
Motorblock eins mit einem Gewicht (wir erinnern uns) von schlanken
80.000
Kilogramm muss ausgewechselt werden.
Die
Operation ist
nicht eben einfach. Auf der Lafette ruht der Koloss. 500.000 Kilogramm.
Der
kann für den Motorwechsel nicht mal eben abgeladen werden.
Immerhin: Der Koloss
ist nicht allein unterwegs. Mit auf der Strecke: 2 Reboiler. Ebenfalls
aus
Lafetten. Was jetzt passieren muss: Ein Motorblock muss von der
Reboilerlafette
abmontiert und an die Kolonnenlafette anmontiert werden. Das wird
etliche
Stunden dauern. Fest steht — es ist jetzt gegen 2 Uhr morgens, dass die
Hauptverkehrsschlagader Kleve-Emmerich gesperrt bleiben muss. Der
Koloss
kommt hier nicht weg. Haltestelle Rheinbrücke.
Das
Problem: Die 8
Tonnen könnten normalerweise leicht mit einem Kran bewegt
werden. Nach oben hin
ist der Motorblock aber nicht frei, denn hoch über der Lafette
ruht der Koloss.
Der Motorwechsel wird zum Geduldsspiel. Geduld zu haben, wenn es um
Geld geht,
um viel Geld, ist nicht eben einfach, aber: Es hilft alles nichts. Die
Stunde
der Tüftler hat geschlagen. Und die zerbechen sich die
Köpfe.
Der
Motorwechsel
wird eine Mischung aus Schieben und Heben werden müssen.
Zentimeterarbeit. Mit
einem Motorwechsel allerdings ist es nicht getan, denn: Was jetzt von
der
Reboilerlafette abgenommen wird, muss nachher wieder
zurückmontiert werden,
denn auch der Reboiler muss aufs Schiff. Wichtig aber ist jetzt, dass
der Koloss
von der Straße kommt. Längst hat sich auf dem
Verkehrsbypass ein riesiger Rückstau
gebildet. Murphy hat seine Finger im Spiel. Was schief gehen kann, geht
schief.
Auch hier. Gerade wird auf der Bypassstrecke ein neuer Kreisverkehr
gebaut.
Eine Ampel ist installiert, da die Straße nur
einzügig befahrbar ist.
Auf
dem Bypass
läuft morgens — so ganz nebenbei — ein Großteil des
Schwerlastverkehrs, der die
Strecke als Abkürzung und Mautersparnis nutzt. So geht ein
Verkehrsinfarkt.
Wenn der Rückstau das Stadtzentrum in Kleve erreicht hat,
platzen die
Adern.
Gegen 12 Uhr mittags haben es die Experten geschafft, den Motorblock zu wechseln. Als die Lafettenmotoren anspringen, erwacht der Koloss zum Leben. Es geht über die Rheinbrückenkreuzung in die Rheinwiesen. Längst wartet das Schiff. Längst wartet der Großkunde. Längst scharren die in ihren Büros die Anwälte mit den Hufen. Das interessiert die Männer in den Rheinwiesen nicht. Für sie ist das unmittelbare Ziel: Kolonne und Reboiler müssen auf das Schiff. Möglichst heute noch. Die 'Haltestelle Rheinbrücke' hat sich erledigt.