Bibel

Im Anfang war das Wort

Phantasie schenkt Vorsprung. 

Wenn Captain Kirk längst als cineastisches Produkt der Leinwand vor der schnöden Wirklichkeit kapitulieren muss und einsieht, dass ein Beamer bestenfalls für die häusliche Vorführung einer DVD taugt, bin ich längst weggetaucht in Welten, die kein Wissenschaftler je erreichen kann. Im Anfang war das Wort ...

Zum Beispiel Bach

Zum Beispiel Bach: Geboren 1685, gestorben 1750. Was war das für eine Zeit? Ich blicke auf das Buch vor mir. 1653 wurde es gedruckt. Unvorstellbar fast. (Wen wird in 400 Jahren noch eine Diskette aus meinem Rechner interessieren?) Dieses Buch löst allein durch sein (noch) Vorhandensein eine Spannung aus.

Einer wie Bach könnte es in der Hand gehalten haben. Nichts spricht dagegen, denn was hier liegt, ist eine Bibel —  gedruckt im Jahre des Herrn 1653. Die sie druckten, die in ihr lasen, die mit ihr lebten — sie sind alle längst vergangen; und doch liegt hier dieses Buch, gemacht von einem Menschen, der die Lettern von Hand gesetzt hat. Gemacht von einem, an den sich niemals jemand erinnern wird. Das Buch aber ist geblieben. Da liegt es und atmet Jahrhunderte. Im Anfang war das Wort ...

Die Seemannsbibel als Fernwehschalter

Oder die Seemannsbibel — so dick wie fünf Videobänder übereinander gelegt. Wo war sie unterwegs? Vielleicht hat ein Walfänger sie mit an Bord seines Schiffes genommen und in einer sturmgepeitschten Nacht Trost im Buch der Bücher gefunden. Vielleicht hat ein Kapitän aus ihr vorgelesen — zum Begräbnis eines an Skorbut gestorbenen Seemanns: „ ... und so übergeben wir seinen Leichnam der See ...“

Die Seiten angefressen vom Salzwasser, liegt da dieses Buch — ohnehin schon ein Buch der Geschichten — und ist längst selbst Geschichte geworden. Bei seinem Anblick wird das Geschrei der Möwen laut, und der Geruch von Tang und Algen legt sich mir in die Nase. An einer Kaimauer reitet eine Möwe auf den träge anschlagenden Wellen. Herman Melville und der weiße Wal. Die Seemannsbibel als Fernwehschalter. Der Dreimaster, der aus dem Hafen ausläuft, und der Mann oben im Ausguck ruft: „Um die Welt!“ Im Anfang war das Wort ...

Traumstation Bibelmuseum

Wohin, um solches zu erleben? Weit fahren muss man nicht. Einmal über den Rhein: Von Emmerich über Rees nach Haldern und dort ins Evangelische Gemeindehaus am Irmgardisweg. Traumstation Bibelmuseum. Museum — das schmeckt nach großhalligen Räumen, Panzerglas und Taschen abgeben am Eingang. Das Bibelmuseum der Evangelischen Kirchengemeinde findet sich im Gemeindehaus, gleich Tür an Tür mit der Eingangshalle, wo der Kicker steht. Eingangshalle? Falsch: Eigentlich ist es der Flur. Hier ist es schon mal wuselig — Jugendliche vertreiben sich die Zeit. Ab und zu ist es laut. Und dann ist da diese Tür, durch die man geht — und hinter der Tür ...

Sobald der Blick die Regale steift, entsteht Geschichte

 ... eine andere Welt: Zum Teil offen in den Regalen liegend — zum Teil hinter Glas verschlossen: Bibeln — aus China,  und weißgottwohersonstnoch. Eine Bibel in Blindenschrift — eine andere verfasst in etwas, das sich 'insulanische Menuskelschrift' nennt. Sobald der Blick die Regale streift, entsteht Geschichte. Da drängeln sich nicht nur die Bibeln — da sind mit ihnen auch all jene, die sie besaßen. Könige vielleicht. Oder Feldarbeiter. Die kleinste Bibel der Welt — auch in Haldern zu finden — hat in etwa die Größe einer Briefmarke.

Manchmal sogar das einzige Buch

Das Halderner Bibelmuseum ist wesentlich jünger als seine Exponate. Durch einen sponsorenbedingten Glücksfall konnte die Gemeinde 2004 den Sammlungsgrundstock von einer ehemaligen Religionslehrerin erwerben. Die hatte mit dem Sammeln begonnen, um im Unterricht Interessantes in Sachen Bibel zeigen zu können. Pastor Hans-Gerd Spörkel: „Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Bibel in vielen ländlichen Haushalten ein zentrales Medium. Manchmal sogar das einzige Buch. Und hinten in diesem Buch finden sich häufig, wie in einem Stammbuch, wichtige Einträge, die Geschichten erzählen.“ Familiengeschichten.

So wird der Gang durch das biblische Museum zum Einblick in Menschenschicksale — Schicksale, die Phantasie anregen. Die chinesische Missionarsbibel: Wer hat sie benutzt? Wer erzählt ihre Geschichte? Fernab von Fernsehen und Kino lässt der kleine Raum im Evangelischen Gemeindehaus Welten und Zeiten zurückkehren und öffnet längst verschollen geglaubte Räume der eigenen Seele.

Und was ist die Sammlung wert? Eine profane Frage, die Hans-Gerd Spörkel sich bisher noch nicht gestellt hat. Da ist immer der Unterschied zwischen Wert und Wertigkeit. Am Ende war der Punkt.

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Heiner Frost
Erstellt: 18.03.2007, letzte Änderung: 18.03.2007