Mazar Camping

Zeltlager

„Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.“ (Kurt Marti)

Hast du...?

Ob ich mir das auch gut überlegt habe. „Ich hoffe mal, du hast dir das gut überlegt.“ Ob ich denn keine Angst habe. „Ich würde mich nicht trauen.“ Was denn die Familie dazu sagt. „Und was, wenn du nicht zurück kommst?“ Afghanistan ist kein Urlaubsziel. „Hättest du dir nicht was Schöneres aussuchen können?“ Fragen im Vorfeld: Was möchten Sie machen? Wollen Sie auch mal raus? Ja, möchte ich. „Wir stellen Ihnen dann mal was zusammen.“ Ich korrespondiere mit dem EinsFüKdo Bw in Potsdam. Einsatzführungskommando der Bundeswehr. Es geht um Genehmigungen, Bestätigungen, Anträge, ein Visum für Afghanistan. Afghanistan ist nicht die Riviera. Koffer packen und los – das reicht nicht. Die Vorbereitungen haben schon im Herbst 2009 begonnen. Grund der Reise: Sattler, Klaus Sattler. Oberstabsfeldwebel. Wohnhaft in Goch. Arbeitet in der von Seydlitz Kaserne in Kalkar. Jetzt eingesetzt in Mazar-e Sharif, Afghanistan, Camp Marmal. Mal sehen, was er macht. Der Mann ist Pressesprecher. Das ist – wahrscheinlich – ein Job diesseits der „kriegsähnlichen Zustände“. Zweimal ist die Reise abgesagt worden. Das erste Mal vor zwei Jahren. Die Koffer standen  gepackt. 24 Stunden vorher: Die Absage. Sicherheitsrelevante Hinderungsgründe. Zwei Jahre später: Afghanistan, die Zweite. Absage diesmal: Zwei Wochen vor dem Tag X. Eigentlich keine Absage – eine Terminverschiebung. Flieger voll. Kontingentsprobleme. Am Telefon ein Zuständiger: „Sie haben vielleicht aus den Medien mitbekommen, dass wir zusätzliche Einheiten runter schicken.“ Verstanden. „Wir melden uns.“  Zwei Tage später: Der neue Termin. 26. Januar bis 30 Januar – ein Tag weniger als ursprünglich geplant. Es gibt zwei „Reisemodelle“: Dienstags hin, freitags zurück, oder: Freitags hin, mittwochs zurück. Das hat etwas mit der Relaisstation zu tun: Einreise über Termez, Usbekistan. Aufenthalt: Eine Nacht. Zeltlager. Am nächsten Tag: Shuttle nach Mazar-e Sharif. Dann: Vier Tage Kriegsnähe. Zurückkommen und eine Geschichte haben. Vorgeschobener Beobachter. Blicke in ein Leben an der Demarkationslinie. Blicke in den Soldatenalltag. Wie leben die? Was machen die? Das Protokoll eines Fremdzustandes. Die Suche nach der einen, großen Geschichte. Das ist eine Art von Schönheitschirurgie: Alltagsvergrößerung. Das besondere Erlebnis wird Abenteuer genannt.

25. Januar, 18.50

Von irgendwoher taucht ein Schmerz auf. Zuerst – auf den Tag verteilt – eine eigenartige Betäubung des Gefühls bei voll einsetzbarem Beobachtungsbesteck. Das Perverse beim Schreiben: Die Ohnmacht findet Worte. Die Betäubung: Alles senkt sich ab, als ginge es in den Winterschlaf. Jetzt das Gefühl: Wenn sie dich morgen nicht einstiegen ließen – wärest du dann wirklich unglücklich? Wo kämen wir hin ...

Noch schnell in den Supermarkt; ein bisschen was Süßes einkaufen. Vorher Kaffee mit Karl. Zum Abschied eine Umarmung. „Komm gesund zurück.“ Ein Schuss durch die Deckung. Der Ursprung des Schmerzes. Was mache ich da eigentlich? Die Frage der Unterbringung wächst zum Hauptsorgenfaktor in meinem Kopf. Massenunterkünfte (Masse beginnt, wenn ich nicht alleine bin) sind meine Sache nicht. (Bitte einmal Kriegsanschluss mit Einzelzimmer.) Wenn ich jetzt absagen würde – wäre das Feigheit? Gibt es einen Auftrag?  Wenn ja, habe ich ihn erteilt. Wo kämen wir hin ...

21.15 Uhr Ein Abschied von der Familie. Ist Abschied lernbar? Trainierbar? In meiner Vorstellung an diesen Augenblick war mehr Herzzerriss. Vielleicht aber nur, weil durch das Vorerleben ein Eigenverhalten planbar geworden ist. (Nicht in die Tränenfalle gleiten. Das geht nur beim Alleinsein.) Der Gedanke, es könnte kein Wiedersehen geben, weil etwas passiert da hinten: Undenkbar, aber erträglich. Die Reihenfolge würde eingehalten. Was aber, wenn ein Staat den Eltern ihr Kind zurückgibt: Zerschmettert. Tot. Gestorben für die Freiheit? Welche Freiheit: Die Freiheit der anderen. Wie denn sterben? Niemand führt Krieg. Der Tochter mit dem Finger ein Rufzeichen auf die Backe gezeichnet: Lang kurz. Strich Punkt. Es ist das Rufzeichen hinter „Ich liebe dich“! Familieninterner Code. Gefühlsübertragung ohne Peinlichkeit. Danach: Fernsehen. Die Nachrichten. Bericht aus Haiti. Menschen am Rand der Verzweiflung. Ein Land voll Chaos, und die Moderatorin entschuldigt sich für die schlechte Tonqualität. Es verschlägt mir die Sprache.

Mazar

Abflug

Köln, 26. Januar 2010, 9.30 Uhr. Flughafen – militärischer Teil. Abflug nach Termez, Usbekistan, um 11.30 Uhr Zulu-Zeit. Zulu-Zeit ist deutsche Winterzeit plus eine Stunde. Innerhalb der NATO ist Zulu praktisch die Standardzeit. Gültig für alle. Man muss nicht viel rechnen. Auf der Checkliste: Schlafsack, Taschenlampe, Badelatschen, winterfeste Kleidung und ... Bescheinigungen. Das Visum für Afghanistan. Die Reiseapotheke. Kamera, Laptop. Nämlichkeitsbescheinigung. Was, bitte? Nämlichkeitsbescheinigung. Kamera, Laptop. Das gehört nämlich mir. Geht mit rein, kommt wieder mit raus. Hoffentlich. Der Zoll will es so. Dazu: Haftungsfreistellungserklärung. Zuständig im Ernstfall: Niemand. Reise auf eigenes Risiko. In den Statuten der Versicherungen ist Wahnsinn nicht wirklich vorgesehen. („Du spinnst doch, dahin zu fahren.“) Für die Versicherungen ist Krieg in Afghanistan. Stirbt ein Soldat, werden sie nicht zahlen. Die Bundeswehr übernimmt und verklagt anschließend die Versicherung. Sagt man mir.

Unter all den Uniformierten, die drei Stunden vor dem Abflug die Halle bevölkern, sind die wenigen Zivilisten schnell ausgemacht. Die hier und jetzt in Uniform auf den Airbus warten, werden nicht am Samstag den Heimweg antreten. Ich bin privilegiert. Mein Turn dauert fünf Tage, der ihre bis zu vier Monaten. Das Einchecken – wie an jedem Zivilflughafen. Eine Spur schneller vielleicht. Zuerst: Die Gepäckwaage. Ich zeige meine Mitfluggenehmigung. „Frost, Niederrheinische Zeitung“, sagt die Dame. (Na ja, so ähnlich.) Nach dem Sitzplatzwunsch wird nicht gefragt. Es wird ausgehändigt: „Ihre Bordkarte.“ Danach: Entweder gleich weiter durch den nächsten Check oder warten. Ich entscheide mich für Version eins. Uhr abnehmen, Geld in den Kasten, Laptop aufs Band. Durch das magische Tor gehen. Es piept. („Bitte mal die Beine auseinander. Und jetzt bitte mal umdrehen. Vielen Dank.“) Freundlich durch und durch.

Zwei SMS treffen ein. Rüdiger teilt mit: In 45 Minuten wird die Kanzlerin Neues zum Thema Afghanistan sagen. Heidi mailt: „Komm gesund zurück. LG.“ Erst einmal gesund hinkommen. Magenprobleme. (Das sind die Nerven.) Auf der Suche nach einem Lächeln auf all den fremden Gesichtern werde ich nicht fündig. Ein Mitflieger wünscht am Eincheckschalter einen guten Morgen. Das ist besser als eine Heizung. Heute nichts gefrühstückt. (Was nicht drin ist, kann nicht raus müssen.) 150 Minuten bis zum Abflug. Welche Geschichte müsste ich jetzt erfinden, um ohne Gesichtsverlust aus dieser Nummer auszusteigen – jetzt und hier? SMS an Rüdiger: „150 Minuten bis zum Abflug. Fühle mich wie betäubt. Magenschmerzen. Warum tue ich mir das an.“ Ich finde das Fragezeichen nicht. (Es gibt keinen Zufall.) Keine Fragen jetzt. Der Handy-Akku kurz vor dem Aufgeben. Wie fühlen sich die, die jetzt in Uniform hier sitzen und warten? Jetzt lebt jeder die eigene Ahnung. Die eigene Vorstellung. Der Blick nach vorn ist ein Blick nach innen.

In der Abflughalle sind jetzt fast alle Altersklassen am Start. Wahrscheinlich auch fast alle Dienstgrade, aber ich bin ja  gewissermaßen Abzeichenanalphabet. Ich war nie Soldat. Kann die Schulterstücke nicht lesen. Vorn, in Herzhöhe, auf allen Uniformen: Namensschilder. Nachnamen. Auf manchen Schildern zusätzlich: Blutgruppen. 0+ (Wenn dich eine Kugel erwischt oder eine Mine, kann dich niemand nach der Blutgruppe fragen.) Mir gegenüber: Heinz. Hinten Heinz. Vorne vielleicht: Feldwebel. Feldwebel Heinz. Unter dem „Klarnamen“ die arabische Entsprechung. Ein Typ in Schwarz trägt die „Rückennummer“ BKA, ein anderer im grünen Overall ist hinten mit „Police“ beschriftet. Die ersten packen ihre Stullen aus. „Im Flieger jibts nüscht“, sagt einer. Jetzt steht fest: Urlaub geht anders. Heinz schläft. Der Kopf sackt wie in Zeitlupe Stück für Stück schulterwärts. Trifft der Kopf die Schulter, zuckt Heinz, rappelt sich hoch, reißt die schlafwässrigen Augen auf. Nach dem dritten Zucken: Nichts mehr. Träum schön, Feldwebel Heinz.

Unter all den Uniformen: Vielleicht fünfzehn Zivilisten. Kollegen? Es ist ein bisschen wie im Auslandsurlaub: Man meidet die Landsleute. Der Police-Mann im grünen Overall tippt eine SMS nach der anderen. Letzte Grüße vor dem Abflug. In einhundert Minuten geht es dem Krieg entgegen. Ich kann denken, schreiben – trotzdem: Der Zustand der emotionalen Betäubung hält an. Wie von innen ausgeschlachtet fühlt sich das an. Draußen: Traumhaftes Wintersonnenwetter. Drei Grad unter Null. Beim Gedanken an zuhause platzt die Betäubung ab, wie rostige Farbe nach einem Hammerschlag. Die Frage: Wie muss sich einer fühlen, der heute der Familie für vier Monate Adieu gesagt hat? (Die Rückkehr der Fragezeichen.) Es wird wenig fotografiert im Terminal. Hier startet kein Urlaubsflieger.

11.15 Uhr: Die Abflughalle gut gefüllt. Frauen sind deutlich in der Unterzahl. Verhältnis eins zu zwölf. Vielleicht. Die Zivilistenzahl nimmt zu. In meiner Vorstellung entsteht das Bild einer Dreierstube ohne Rückzugsmöglichkeiten und vernagelt mir den Tag. 30 Minuten bis zum Abflug. Die Busse fahren vor. Auf dem Platz draußen: Eine Maschine mit der Aufschrift „Bundesrepublik Deutschland“. Daneben ein Airbus mit der Aufschrift „Luftwaffe“. Unser Flieger. Noch gibt es ein Zurück. Reserviert nur für mich. „Bitte besteigen Sie jetzt den Bus, der Sie zur Maschine bringen wird.“

Dreißig Minuten nach dem Start: Der Flieger zu drei Vierteln gefüllt. Berechnete Flugzeit: Sechs Stunden, dreißig Minuten. Entfernung: Fünftausendzweihundert.  Das Kabinen­personal im Overall. Gurte werden erklärt. Das Übliche. Nur: Bei der Erklärung der Masken, die beim Abfall des Kabinendrucks aus der Decke fallen werden, fehlt der Hinweis: Setzen Sie zuerst Ihre eigene Maske auf, bevor sie Ihrem Kind helfen.

Viel Beinfreiheit. Null Unterhaltungsprogramm. Dafür die Ankündigung von Getränken, Mittagessen und Obst. Von wegen: Jibt nüscht. Neben mir ein Sachse in Zivil. Er macht schon zum dritten Mal runter. Ich frage ihn, was er macht. Er antwortet. Ich verstehe es nicht. Will nicht nachfragen.

Es wird früh dunkel werden heute. Wir fliegen der Nacht entgegen. Afghanistan ist dreieinhalb Stunden vor, Termez vier. Der Nebensachse erzählt: Camp Marmal ist wie Deutschland. Kein Problem. Alles friedlich. „da wird weniger geschossen als bei uns auf dem Schützenfest.“ Kundus – eine andere Nummer. Mit Vorsicht zu genießen. Wörtlich und überhaupt auch sonst. In Kundus ist der Flughafen eine Schotterpiste, sagt der Nebensachse. „Zwo Tage Regen – zehn Tage Delay. Nichts geht mehr.  Alles schon vorgekommen.“

16.20 Uhr nach mitgenommener Zeit. Das Mittagessen: Rosenkohl, zwei Scheiben Schweinebraten (gibt es Vegetarier unter den Soldaten?), Brötchen, Vollkornbrot, Butter, Käse, Marmelade, Orangensaft und eine nicht näher definierbare, aber durchaus leckere Süßspeise in der geschmacklichen Nähe von Orangencreme mit Kokosflocken drauf. Einstellen der Uhr auf Ortszeit Termez. Plus vier Stunden also.  Geschätzte Ankunft: Zweiundzwanzigfünfzig. Die Nacht im Zelt wird kurz werden.  Ich erinnere mich an Sattlers erste Mail: „In Termez kann man nicht verschlafen. Die Zelte gleich neben dem Rollfeld.“ Große Vögel – großer Lärm. Im Flugzeug wird gelesen oder geschlafen. Der Nebensachse ist leidenschaftlich in ein Motorradmagazin vertieft, leiht sich einen Kugelschreiber, um ein Inserat zu markieren. („Nochhör kannste sönst nüscht fünden.“)  Die Sitzreihen im Flieger: Zwo, vier, zwo. Der Nebensache und ich: Zweierkonstellation – Flugrichtung rechts. Ich am Gang. Die Zivilisten links von mir entpuppen sich als Nichtkollegen. Das lässt sich aus Gesprächsfetzen schlussfolgern. Also: Nicht alles ohne Uniform ist Presse. Vielleicht also doch Krieg mit Einzelzimmer. Ich baue Hoffnung an.

Save Heaven

Termez, 0.30 Uhr. Das hier nennen sie „Safe Heaven“. Erklärt der Offizier, der hier und heute für die fünf Presseleute zuständig ist. Alles ist straff durchorganisiert. („Presse zu mir!“) Die Presse: Ein CNN-Team – Moderator und Kamerafrau, ein Redakteur von Loyal, einer Zeitschrift für Sicherheitstechnik, ein Pole, der in Berlin für Rzeczpospolita auslandskorrespondiert und ich. Safe Heaven in Usbekistan. „Wenn in Mazar die Hütte brennt, kommen sie alle erst mal hierhin.“ Der Airbus fliegt nicht nach Mazar. Kein ESS. (Elektronischer Selbstschutz mit Täuschkörperausstoß.)Luftlinie Termez – Mazar: Keine hundert Kilometer. Trotzdem müssen alle raus. Ab Termez regiert die C160: Transall. Seitdem der Verteidigungsminister – Hände in die Hüfte gestemmt – im Flieger im Kreis von Soldaten fotografiert wurde, weiß die Republik mehr über das Innenleben der Transall. Die C160 ist ein Flieger aus dem letzten Jahrtausend – hat einiges an Jahren auf dem Buckel, aber das Ding fliegt und fliegt.

Beim Aussteigen haben sie unsere Pässe eingezogen. Wir sind Transit. Ein Herr Schulz in Uniform weist uns ein. „Wenn jemand sich hier nicht an die Regeln hält, wird er morgen zurück geschickt.“ „Wer will denn nach Usbekistan abhauen?“, fragt einer. Striktes Fotografierverbot auf dem gesamten Gelände. Wer sich nicht daran hält ... Striktes Verbot des Tragens von Kopfbedeckungen. Wer sich ... (So also käme man jetzt noch raus aus der Nummer. Einfach über den Zaun klettern und sich erwischen lassen: Ende einer Dienstfahrt.) Die Kamerafrau darf in den VIP-Container. (Das nächste Mal geh‘ ich als Mädel.) Die Herren kommen ins VIP-Zelt. Ein Zelt von vielleicht sechs mal acht Metern mit vierzehn Feldbetten – aufgeteilt auf vier Herren: Fast ein Einzelzimmergefühl. Die Temperaturen: Erträglich. Um die zehn Grad. Aber: Regen. („Den habt ihr mitgebracht.“) Nach dem „Verbringen des Handgepäcks“ ins Zelt und dem Besetzen der Liegen: Kantinengang. („Die Küche ist noch warm.“) Dabei vorbei an der Stelle, wo wir später ans Großgepäck gelassen werden, um Nötiges für die Abend- und Morgentoilette mitzunehmen. Das Großgepäck wird gleich danach für den Morgen vorbereitet. Erst „gehen die Hunde drüber“, dann wird alles auf Großpaletten verladen. Die haben verschiedene Farben. Für die verschiedenen Ziele. Es ist einiges im Angebot. Aber: Egal, wer nun morgen wohin muss – zunächst gehen alle Flieger nach Mazar. Shuttles im Stundentakt. Das Gepäck: Spürhunddurchforstet. Es wird nach Drogen gesucht. Wieder und wieder. Drogen? Wie bescheuert muss einer sein, hierhin mit Drogen anzureisen? („Alles schon vorgekommen“, sagt einer.)

Die Strecke von Termez nach Mazar: Gerade mal zwanzig Minuten Flugzeit. Ein Hopser – aber einer, der Arbeit macht. Der Stützpunkt Termez arbeitet praktisch nur für das Transitgeschäft. Würde der Airbus direkt nach Mazar fliegen, könnten sie hier dicht machen. Auf zur Kantine. Ein Zelt für vielleicht dreihundert Mann. Draußen ein Schild: Dorfplatz Termez. Brot, Wurst, Marmelade und Schweinegeschnetzeltes. Ganz nach Belieben. „Vielflieger“ sind begeistert von der Kantine. „Die sind echt gut hier“, sagt einer. Das Gästebuch sagt es auch: „Super Essen“ – gleich der erste Eintrag. Und so geht es weiter. Über der Essensausgabe: Das Goldene M. Mc Donalds Termez. Die Küchenmannschaft  beliebt zu scherzen. (Mit witzigen Schildern haben sie’s hier.) Das Essen: Wirklich Super. Getränke – ohne Alkohol – nach Wahl. CNN und Loyal sind alte Termezhasen und empfehlen die „Area 51“ – amerikanisch ausgesprochen: Äria fifftiwann. Da gibt es anderes als Fruchtsäfte, Tee und Kaffee. Einmal im Monat fährt ein Lastwagen von Hamburg nach Termez und bringt Getränke für die Bar. „Nicht wirklich, oder?“ „Doch.“

Termez: Stützpunktpersonalzahl: 86. „Waren mal 302“, sagt unser Fremdenführer. Dann wurde die Transallflotte nach Mazar verlegt. Ende. 60 Euro gibt’s für den Tag in Termez. Wer weiterfliegt, erhält das Doppelte. „Das hat was mit der zunehmenden Gefahr zu tun“, erklärt einer und fügt hinzu: „In Mazar ist eigentlich keine Gefahr. Kundus – das ist eine ganz andere Sache.“ (Hab ich schon gehört.) CNN und Loyal fachsimpeln. Es geht um Afghanistan im Allgemeinen, die Bundeswehr im Besonderen – es geht um Waffen, Preise, Sicherheit. Die Afghanistan-Konferenz, die neue Strategie. Hier wird Meinung produziert. Die Nachrichtenmaschine – eine Art Deus ex macina. Was kostet uns eigentlich dieser Einsatz? Am Tag? Im Monat? Übers Jahr? „Circa eine Milliarde“, schätzt einer. „Ein Fliegenschiss im Angesicht der Hypo Real Estate.“  Die Frage: Wie wird die neue Strategie aussehen? („Gibt’s schon was im Internet?“) Dann: Die Waffen. Der Fuchs: Oft kopiert. Nie erreicht. „Ihr müsst unbedingt eine Patrouille fahren“, wird empfohlen und es klingt so, als triffst du in Amerika einen Deutschen, der sagt: „Vergiss nicht den Grand Canyon.“ Nach dem Essen Marsch ins Zelt. Vor dem Schlafengehen ein Gang zum Toilettencontainer. Zähneputzen, Katzenwäsche. Ortszeit: 0.30 Uhr. Innere Zeit: minus vier Stunden. Trotzdem: Geschlafen werden muss. Der Schlaf: Ein Seidenschal bei Nachtfrost. Viel zu leicht.

Aufstehen um sieben. Gang zum Toilettencontainer. Da ist einiges los. Danach: Mac Donalds, Termez, die Zweite. Brot, Müsli, Obst, Eier – was man so braucht. CNN führt das iPhone vor. „Ein Netz in Usbekistan. Spiegel Online. Alles super.“ Draußen Bindfadenregen der Marke Niederrhein. (Den hatten wir ja mitgebracht.) Danach Einchecken Richtung Mazar. Die Gelbe Gruppe. Grün geht nach Kundus. Es gibt drei weitere Farben. Im Wartezelt hat das Wasser die Bodenplatten zugedeckt. Es kann noch einen Moment dauern bis zum Abflug. Dann: Namentlicher Aufruf. Mein Magen spielt verrückt. Ab in den Bus. Auf zum Rollfeld. Da steht der Bus erst einmal zehn Minuten im Regen. Wörtlich und überhaupt. Dann Ausstieg. Rückgabe der Identitäten. („Hier ist Ihr Pass.“) Jetzt die Transall: Das Hinterteil klafft offen zum Einstieg. Die Sitze: Marke jetzt geht’s los. Flugzeit: Irgendwo zwischen vierzehn und dreißig Minuten. („Viel Vergnügen.“) Ich muss an den Kapitän vom Vortag denken: „Wir wünschen Ihnen eine gute Weiterreise, wohin auch immer. Passen Sie gut auf sich auf.“ Dann startet der Shuttle. In Mazar steigen die „Heimatflieger“ Richtung Termez ein. Ende eines Auslandseinsatzes. ISAF OUT steht auf den Schildern an ihrem Gepäck. ISAF steht für International Security Assistant Force. OUT steht für: Ab nach Hause.

Das Hinterteil der Transall klappt auf. Bitte aussteigen. Rauf auf den Bus. Ab zum Terminal. Warten auf das Gepäck. Wer von hier aus weiterfliegt, holt sein Gepäck und packt es auf die nächste Palette, versehen mit Ortsangabe und Farbe. CNN will nach Kundus. Oder war es Kabul? Loyal reist weiter nach Faisabad: Blaue Palette. Der Flug wird sich verzögern. Wetterding. Prost Mahlzeit. Polen und ich werden vom Presseoffizier in Empfang genommen. Der muss noch ein paar Sachen regeln. (CNN, Loyal). Kein Problem. Danach: Fahrt zu den Unterkünften. 

Terminal Camp Marmal

Herzlich Willkommen

Camp Marmal im Regendunst. Krieg mit Einzelzimmer oder nicht? Antwort: Doppelzimmer. Für eine Stunde. Danach: Umdisposition. Zwei Männer – nur ein Stubenschlüssel. Schwer zu koordinieren. Zumal Polen und ich nicht dasselbe Programm haben. Es stehen Stuben frei. Da geht was. Also: Einzelzimmer. Dafür vielleicht kein Krieg. Oder doch? „Morgen fahren Sie dann beide Patrouille.“ (Grand Canyon für Anfänger.) Erstes Briefing im Pressebüro. Fakten, Fakten, Fakten. Frost trifft Sattler. „Herzlich Willkommen im Camp Marmal.“ Dergleichen nennt man „lokale Anbindung“. Afghanistan ist das eine. Einer von uns ist da. Das ist das andere. Nichts für CNN. Acht „Human Interest Stories“ hat das Team auf Halde. Nichts davon wurde gesendet. Schade eigentlich. Also ab nach Kundus. Von da aus: Schalte nach Deutschland. Merkel und Karsai. „Für wen schreiben Sie eigentlich?“ „Werden Sie nicht kennen. Kleines Blatt vom Niederrhein.“ „Aha.“

Das Programm für den ersten Tag: Mittagessen. Danach Camprunde mit Klaus Sattler. Erster Merksatz: „Wir sind hier die einzige Parlamentsarmee.“ Auch wichtig: Bei Vielem, was ab jetzt gesagt wird, ist Namensnennung eher nicht gefragt. Nicht alles, was gedacht wird, ist auch offiziell. Ohnehin: Allenfalls Vornamen. Nachnamen sind abzukürzen oder zu erfinden. Ausnahme: Sattler, Klaus. 

Das Camp ist ein finsterer Ort. Am Abend fällt das Lager in Dunkelheit. Die Devise: Wenn keiner dich sieht, fällt das Zielen schwerer. In mondlosen Nächten gehört die Taschenlampe zum "Ausgehbesteck". Sattler sagt: „Es ist alles da, was man zum Leben braucht.“ Das Merkwürdige am Leben: Die Freude beginnt ja erst, wenn mehr da ist, als du brauchst. Die Erlebnismöglichkeiten sind nach einem halben Tag ausgeschöpft. Für die meisten, die hier sind, bedeutet Feldlager: Kein Wochenende. Es wird durchgearbeitet. Sieben Tage die Woche. Niemand ist zum Spaß hier. „Am Schluss lebst du von den Reserven“, sagt Sattler. Er hat noch fünf Wochen und ist im Countdownmodus angekommen. Nicht, dass er die Krise hätte, aber: Es wird Zeit für ihn zu gehn. Er ist bei der eisernen Reserve angelangt. Viel mehr geht nicht. Abhängen geht anders. Als Informationsmeister des Geschwaders hat er reichlich zu tun. Die Tage sind lang. Gut so. Was soll man schon tun im Camp Marmal. Nicht, dass es gar nichts gäbe. Zu nennen wären: Zwei Cafés, ein Fitnessraum, ein Internetcafé, eine Kapelle. Ein „Ich bin dann mal weg“ – das gibt es nicht. Nach einer Woche in der Kantine, beginnt das Wiederholungspaket, und in Sachen Verpflegung gilt: Wenn man hier zum nächsten Italiener geht, trägt der Uniform und hat keinen Pizzaofen. 

Die Stuben: Zwölf Quadratmeter  – wenn es gut läuft, mit nur zwei Mann besetzt. Es können aber auch drei sein. An der Stirnseite – gleich unter einem Minifenster – ein Einzelbett, an der Längsachsenwand: Ein Doppeldeckerbett. Das Fensterbett: Heiß begehrt und oft nach der Devise „ober sticht unter“ vergeben. Übersetzung: Ein höherer Dienstgrad kann als Argument dienen. Wenn man die Spinde richtig stellt, entsteht für den Einzelbettinhaber eine Art von abgetrenntem Raum. Drei Quadratmeter künstliche Einsamkeit. Nichts für Individualisten.

Im Camp: Kein Grün. Nur Straßen, die Wohncontainer – hier Shelter genannt – und, wo noch nichts steht: Kies. Sattler sagt: Der Kies hat was mit dem Getier zu tun. Zwei giftige Spinnenarten gibt es in der Gegend. Die Spinnen scheinen keinen Kies zu mögen. Giftige Spinnen lassen sich problemlos in diese Atmosphäre hineindenken. Zwischen Straßen und Gebäuden: Hier und da Zelte – umzingelt von Sandsäcken. Die Zelte werden gebraucht, wenn es in Zeiten des Kontingentwechsels zu Überbelegungen kommt. Alle Verbindungen laufen über Mazar. Wer nach Hause darf und aus Kundus kommt, Kabul oder Faisabad, hat Aufenthalt im Camp Marmal. Manchmal wird „vorgeshuttlet“. Heißt: Ist die Wetterprognose schlecht, rücken die Heimflieger eher im Camp ein. Wer Pech hat, ist dann ein paar Nächte im Zelt untergebracht.

Camp Marmal 

Im Camp

Der Himmel über Mazar: Grau in Grau. Jogger drehen Camprunden zwischen Militärfahrzeugen. Ab und an: Soldaten auf dem Rad. Radeln lohnt sich: Das Gelände - ein Kilometer in der Breite, zwei in der Länge. Manche verlassen es in vier Monaten nicht ein einziges Mal. Schließlich gibt es genügend Tätigkeiten, die keinen „Landgang“ beinhalten. Sattlers Bürofenster gibt den Blick auf das Flugplatzgelände frei. Shuttleflüge werden abgewickelt. Transalls beladen. An einem schlechten Tag muss es deprimierend sein, wenn die Transall Richtung Termez abhebt mit den Heimfliegern an Bord. Dann hilft nur ein Blick auf den Motivator. Das ist der Bildschirmschoner auf dem Bürorechner. Er zählt den Countdown der Lagerzeit bis auf die Sekunde herunter und zeigt gleichzeitig das Anwachsen der Auslandsverwendungszulage. Hinter dem Gebäude des Geschwaders, in dem sich Sattlers Büro befindet: Der Raucherkampfstand. Geraucht wird viel im Camp. Fast überall haben sich die Raucher kleine Unterstände gebaut. Rauchen im Regen – das muss niemand haben. Rauchen kostet nicht viel im Camp: Elf Euro die Stange. Sattlers Raucherterrasse: Ein Ansatz deutscher Wochenendgemütlichkeit: Klappstühle, ein Kicker. Hier tritt die Bundeswehr auch schon mal gegen die Zivilbevölkerung an. Es gibt Leute aus der Umgebung, die einen Job im Camp haben: Handwerker, Putzleute. Die Jobs sind begehrt, denn sie bringen bis zu 500 Euro im Monat. Für Einheimische ein Vermögen. Für die Soldaten knapp fünf Tage Auslandsverwendungszulage. Eine Ärztin in Kundus hat ihren Job aufgegeben und arbeitet jetzt in einer Campputzkolonne. Noch Fragen? Nach dem Kickern: „Thanks for the game.“

Der Campladen: Supermarktatmosphäre. In den Regalen: Weihnachtszeitreste zum Sonderpreis. Schokoladenweihnachtsmänner konkurrieren mit Zigaretten, Hygieneartikeln und Büchern. "Mein Papa ist Soldat" lautet einer der Titel. Daneben: Krimis. Meterware. Bier auf Paletten. Parfum. Die Preise: Niedrig. An einer der Campstraßen eine Art Bazar. Betrieben von Afghanen. Teppiche, Turnschuhe, technisches Gerät. "iPhone für zwanzig Euro? Kein Problem. Du darfst nur nicht erwarten, dass es funktioniert."

Sattlers heilige Viertelstunden: Der tägliche Anruf nach Hause. Dann heißt es für den Rest der Welt: Wir müssen leider draußen bleiben. Wegtauchen aus dem Lageralltag – Eskapismus am Telefon. Ein Stück Halt vor der Kante, an der es steil bergab geht in Richtung des Trübsinns. Sattler sagt: „Hänger gab es nur einen bisher. Heiligabend.“ Ansonsten geht’s. Genug zu tun. Arbeit nicht als Droge, aber doch mindestens als konzentrierte Ablenkung.

Sattlers Zeit läuft aus. Allerdings heißt es auch in diesem Jahr für ihn: Minus Karneval. Er wäre gern dabei gewesen. Im Camp gilt: Wer sich mit den Nötigsten zufrieden gibt, wird kein Problem haben. Natürlich: Unser Nötigstes ist ein anderes als das der Leute, die hier leben. Auszugeben gibt es im Camp kaum etwas. Einzig das Kommunizieren mit der Heimat geht ins Geld. „Bei der Truppenbetreuung muss unsere Armee noch viel lernen“, sagt einer. „Bei den Amis ist sowas kostenfrei. Die wissen, wie’s geht.“ Dafür müssen die Kollegen Amis mindestens für ein Jahr hier sein. Gegen diese Vorstellung sträubt sich meine Fantasie.

Das Camp ist umgeben von der sogenannten Blue-Box, einer Art Zehn-Meilen-Zone auf dem Land. Die Blue-Box steht 365 Tage im Jahr unter Bewachung - durchgehend. Es leben Leute in der Blue-Box. Die Deutschen unterhalten ein gutes Verhältnis zu ihnen. Für die Dörfer – die meisten bestehen aus Lehmhütten – gibt es sogenannte Dorffeldwebel. Sie halten den Kontakt zu den Menschen. Reden. Sorgen, wenn nötig, für Hilfe. Liefern ab und an Baumaterialien oder gewähren die Möglichkeit, dass die Menschen aus der Box sich in der Camp-Klinik behandeln lassen. Auf den Gängen vor den Arztzimmern sitzen ab und an Frauen in Burkas.  „Wir sind Gäste in diesem Land“, beschreibt Sattler die Grundidee des Hierseins. Bei den Amis sei das anders. Sattler spricht nicht von Cowboys, aber irgendwie geht die erste Assoziation in diese Richtung. Längst allerdings interessieren sich Obamas Generäle für das deutsche Modell, das nicht ganz so uneigennützig ist, wie es beim ersten Hören den Anschein haben mag. „Wir fahren gut damit“, sagt Sattler. „Jemand, der bei uns im Camp arbeitet und sein Geld verdient, ist unser Freund. Der wird dafür sorgen, dass seine Arbeitgeber nicht angegriffen werden.“ In den Dörfern ist es dasselbe. Kürzlich erst wurden die Deutschen gewarnt. Jemand hatte einen Unbekannten beobachtet, der an der Straße irgendwas buddelte. Er sprach mit dem Dorffeldwebel. Der schickte den Kampfmittelräumdienst zu der Stelle, die der Mann beschrieben hatte. „Die haben dann die Vorbereitung für eine Sprengfalle gefunden“, sagt Sattler und ist ziemlich sicher: „Wenn du einfach mit einem gepanzerten Fahrzeug durch die Dörfer rollst und niemals absitzt, wird es die Leute einen Scheiß interessieren, ob jemand anderes dich wegsprengen möchte.“ Nicht wenige im Camp sind der Meinung, dass es nicht darum gehen kann, den Afghanen die Kultur zu bringen. Sie haben schließlich selber eine. Es kann nicht darum gehen, den Menschen im eigenen Land ihre eigene Kultur zu verbieten. Das Problem: Der Gegner trägt keine Uniform. Jeder kann es sein: Das Kind auf der Straße, die Frau an der Ecke, der Mann auf dem Motorrad. Die Folge: Ein Generalverdachtsdenken. Wenn jeder dein Feind sein könnte, findest du die Freunde nicht, außer, sie tragen (d)eine Uniform. Für diese Denkungsart muss man geboren sein. Schnell ist der Kopf an einem Punkt, der keinen Platz lässt für Kompromisse. Es geht um schwarz und weiß. Aus Sicht der Soldaten ist jede Kampfhandlung ein Wagnis, denn sie kann vor einem deutschen Gericht enden. Aus Soldatensicht ein manchmal unauflösbares Paradox. Wie kommt einer wie Guttenberg eigentlich an bei der Truppe. „Den haben sie hier gefeiert wie einen Pop-Star“, erinnert sich Sattler. Endlich mal einer, der sagt, was hier abgeht. (Das Wort von den kriegsähnlichen Zuständen.) Warum dann nicht gleich Krieg. Sattler hat die Antwort. „Es gibt natürlich eine Definition für den Begriff Krieg. Krieg ist eine bewaffnete militärische Auseinandersetzung zwischen zwei (oder mehr) Staaten. Das trifft hier nicht zu. Trotzdem: Die Diskussion um Krieg und kriegsähnlich wirkt spitzfindig. „Wenn du die Jungs fragst, was hier los ist, werden sie sagen: Krieg.“ Mazar ist relativ friedlich. In Kundus gehören Angriffe zum Alltag. Wenn die Patrouillen rausfahren, gibt es fast immer Beschuss. „Die riskieren da ihren Hals. Da herrscht eine ganz andere Stimmung“, sagt Sattler. Er war zweimal da und ist froh, in Mazar zu sein. „Gestorben wird in Afghanistan jeden Tag“, sagt Sattler. Aber im Bewusstsein der Menschen zuhause taucht das nicht auf.

Das Lagebild des 26. Januar:  Raketenangriff auf das Camp Ghormach im Norden. Keine Toten. Keine Verletzten. Kabul: Ein Selbstmordattentäter sprengt sich in die Luft. Acht verwundete Amerikaner. Elf verwundete Afghanen. Region Ost: Kunar. Angriff auf eine amerikanische Patrouille. Ein Soldat getötet. (KIA – killed in action.) Vier Verletzte. (WIA – Wounded in action.) Kandahar: Raketenangriff auf einen Konvoy. Ein Soldat getötet. Kaum ein Tag ohne Tote. „Vor allem die Amerikaner und die Briten zahlen einen hohen Blutzoll“, sagt Sattler. Bei der Camprunde kommen wir am Ehrenhain vorbei. Flaggen aller beteiligten Nationen. Eine Wand mit Schildern. Es sind Namensschilder. Die Toten. Später in der Kapelle, in der auch die Gottesdienste stattfinden: Das Bild eines jungen Soldaten. Freundlich lächelt er in die Kamera. Der Trauerflor sagt: Jetzt lächelt er nicht mehr. Neben dem Bild: Kerzen. Vor dem Bild ein Trauerbuch. Auch Sattler schreibt etwas hinein. Wer will den Eltern dieses Jungen erklären, warum ihr Sohn gefallen ist? Überhaupt: Gefallen – das klingt immer ein bisschen so, als würde einer im nächsten Augenblick aufstehen und weiterlaufen. Wer in Afghanisten fällt, steht nicht mehr auf. Was wäre, wenn jetzt einfach alle gingen – wenn die Deutschen abziehen müssten. „Ich hätte das Gefühl, dass wir unsere Aufgabe nicht erledigt hätten“, sagt einer in der Kantine. Und was ist die Aufgabe? Schweigen.

Bewusstsein für die kriegsähnlichen Zustände entsteht natürlich bei einem Vorfall wie dem mit den Tankwagen in Kundus. Sattler ist sicher: „Hier kannst du jeden fragen. Alle werden sagen, dass Oberst Klein richtig gehandelt hat. Er wollte seine Leute schützen. Es gab keine andere Möglichkeit.“ Und die Zivilisten? Wer sagt, dass welche da waren? Das Problem in Afghanistan: Du erkennst den Gegner nicht. Reicht das, um eine Bevölkerung unter Generalverdacht zu stellen? „Jeder hier kann dein Gegner sein, und du weißt es nicht“, sagt Sattler. (Jeder kann dein Freund sein und du weißt es auch nicht. Aber Freunde werden dich nicht töten.) Ein Krieg raubt das Stück Urvertrauen in die anderen, das doch ein Teil des Luxus ist, der Bestandteil von Lebensfreude ausmacht. Guttenberg ist also everybody’s darling. „Der Struck – der kam auch an“, sagt Sattler. Zwei unterschiedliche authentische Männer. Ansonsten halten viele Deutsche im Camp nicht viel von ihren Auftraggebern. (Die Parlamentsarmee.) Dass es wenig Rückhalt aus der Bevölkerung gibt, wird mit einem Mangel an Aufklärung begründet. Die Politik erklärt den Leuten zuhause nicht, was hier wirklich los ist. Wahrheit ist schlecht fürs Geschäft. Als Guttenberg hier war, hat er sich zu den Soldaten gesetzt. Ist nicht in Briefing-Räumen mit hochrangigen Militärs hängen geblieben. „Der wollte wissen, was hier wirklich läuft“, ist Sattler sicher. „Der hat auch seinen Leibwächtern gesagt: Wenn die Jungs hier ein Foto mit mir zusammen machen möchten – lasst sie machen.“ Das kam an. Kommt an. Einer, der sich kümmert.

Camp Marmal

Gott und die Welt

Wenn du in einem Camp wie diesem lebst, ist es gut, dass sich jemand um dich kümmert. „Gott zum Gruß“, sagt Pastor Andreas Ginzel, wenn er den Hörer abnimmt.  2006 war er in Kundus, 2008 in Kabul – jetzt ist er hier. Noch bis Mitte März. Ein Militärpfarrer trägt Uniform. Er ist ein Truppenangehöriger ohne Dienstgrad. Ohne Waffe. Obwohl Ginzel sich Letzteres vorstellen kann. In seinem Büro: Eine Gitarre. Der Pastor setzt sie bisweilen im Gottesdienst ein. Was unterscheidet ein Camp von einer „normalen“ Gemeinde? „Man ist hier dichter zusammen.“ Für die Gottesdienste haben sie mittlerweile sogar einen kleinen Chor und ein Bläserquartett. Das Problem: Wenn Gottesdienst ist, kann es passieren, dass die Chormitglieder nicht kommen können. Dienst ist Dienst und Gott kommt später. Die Kapelle ist ein schönes Gebäude. „Wir nennen dieses Gebäude nicht Kirche“, sagt Ginzels evangelischer Kollege von Schubert. „Die Kapelle ist nicht eingesegnet. Da können auch andere Veranstaltungen als Gottesdienste stattfinden.“  Die Evangelen nutzen die Kapelle, die Katholen – aber auch Atheisten könnten sich hier versammeln. “Dann hätte man doch auch eine Moschee mit reinnehmen können“, sagt Piotr, der polnische Kollege. Von Schubert sieht ihn an: „So weit sind die hier noch nicht.“ Klare Ansage. Ökumene geht nicht überall. Was sagt die Geistlichkeit zum Tanklastzugangriff von Kundus? Ginzel ist sicher: Es gab keine andere Wahl. Und die Zivilisten? Wenn überhaupt welche da waren – die Taliban tragen ja keinerlei Erkennungszeichen. Und wenn doch Zivilisten da waren …? „…dann hätten sie sich ja wegbewegen können …“

Am nächsten Tag: In Sattlers Büro schellt das Telefon. Er sieht sich die Nummer im Display an. „Das ist doch mal was. Mein Nachfolger ruft an.“ Folgt: Ein 20-minütiges Gespräch mit der Ablösung. Mehrmals fallen Sätze wie: „Werd mir bloß nicht krank.“ Oder: „Langsam ist es genug hier.“ Zwischendurch: Nützliche Tips für das Leben hier und den Job. Tu dies. Lass jenes. Aber Hauptsache: Die Ablösung kommt.

Ein Besuch in der medizinischen Abteilung des Geschwaders. Auf die MedEvac (Medical Evacuation) sind sie stolz. Um das System wird die Truppe beneidet. Es geht um die Bergung und Rückführung von Verletzten. Ein Transall steht in ständiger Bereitschaft. Sie ist für Flüge in Afghanistan und nach Usbekistan gedacht. An Bord: Möglichkeiten zur intensivmedizinischen Behandlung. „Was wir hier machen, ist allerdings erst der zweite Schritt“, erklärt der Chefmediziner. Die Erstversorgung hat bereits stattgefunden, wenn wir einen Verletzten in Empfang nehmen.“ Der wird dann entweder in der campeigenen Klinik versorgt oder ausgeflogen. „Es gibt Sachen, die in der Klinik nicht gemacht werden können“, erklärt der Arzt. Der MedEvac Airbus ist für den Verwundetentransport in die Heimat gedacht: Eine fliegende Klinik mit Ausrüstung vom Feinsten. Er kam unter anderem auch 2004 beim Rücktransport von Verletzten nach dem verheerenden Tsunami im Indischen Ozean zum Einsatz. 
Der normale Weg nach Hause ist ein Flug mit der Transall von Mazar nach Termez mit Anschluss nach Köln. Fast täglich werden Rückkehrer ausgeflogen. Einmal Usbekistan einfach. Am Tag vorher gibt es Abschiedsfeiern. Heimfliegerpartys. Pro Soldat und Tag sind zwei Dosen Bier erlaubt. Aber wenn einer zwanzig Leute einlädt und die Genehmigung für vierzig Dosen bekommt, ist es natürlich denkbar, dass zehn der Gäste kein Bier trinken. So erhöht sich das Kontingent für den Rest. Sattler ist trotzdem sicher: Ein Alkoholproblem gibt es nicht. Schwer zu kontrollieren. Im Camp in Kundus gibt es gar keinen Alkohol.

Freitag, 16 Uhr. Irgendwas tut sich im Camp. Überall marschieren Soldaten in Gruppen auf. An der Straße, die von der Kapelle zum Terminal führt, bildet sich eine Menschenschlange. Die Zufahrten werden gesperrt. Military Police fährt auf. Stop-Leuchtzeichen an den Autos. Um 16.12 läutet die Glocke der Kapelle. Ich stehe dreihundert Meter weg. Jetzt besser nicht hingehen. Dann – in der Mitte der Straße – eine Art Pritschenwagen. Darauf offensichtlich ein Sarg mit norwegischer Flagge. Da tritt einer die Heimreise an. Das geht jeden hier etwas an. Was sagte Sattler gestern? Hier wird jeden Tag gestorben. Später erfahre ich, dass es schon am Wochenbeginn ein Norweger getötet wurde. Ganz in der Nähe. Wieder das, was man niemandem erklären kann. Das Bild mit dem Trauerflor in der Kapelle: Der Norweger.  Das Camp ist jetzt noch trister als sonst. Noch ruhiger. Der Tod singt ein Lied. Ich gehe zum Ehrenhain – schaue noch mal auf die Namenstafeln. Hinter einer steckt eine Rose. Auf dem Schild der Name: Christian Schlotterhose, Oberfeldwebel, gestorben am 25. Juni 2005. Schlotterhose - einer, der so heißt, muss sich über dumme Witze nicht beklagen. „Stell dich nicht an, Schlotterhose.“ Schlotterhose stellt sich nicht mehr an. Seit dem 25. Juni 2005 nicht mehr.]

Das Camp wird zum Alltag. Nach dem Abendessen in der Kantine geht es in die Oase. Wer will, kann hier – statt Kantinenessen – Jägerschnitzel mit Pommes haben oder Spaghetti Bolognese. Zwischen 20 und 22 Uhr: Wein und Bier. Um 22 Uhr: Last Call. Um 22.30 Uhr: Licht aus. Die Militärpolizei ist unnachgiebig. Es wird dicht gemacht. Nur im Internetcafé und in der Fitnesshalle ist weiterhin Betrieb. Draußen hat es geschneit. Ein paar Soldaten kratzen Schnee von den Tischen im Atrium: Schneeballschlacht im Camp Marmal. Die Munition ist schnell aufgebraucht. Mit Piotr Bier und Wein getrunken bis zum Licht aus. Dann zurück ins Shelter. Morgen: Der letzte Tag. Am Samstag der Rückflug. Experten raten für den Shuttle nach Termez zum Mittelflug. Niemand will auf den ersten Flug. Einchecken um 4.45 Uhr. Abflug um sieben. Der dritte Flug kann ausfallen, wenn etwas mit den Maschinen nicht stimmt. In Termez rieten sie für die Rückreise immer zum dritten Flug. Verkürzt das Warten in Safe Heaven. Was den Airbus von Termez nach Köln angeht, gilt: First come, first serve. Keine Platzkarten.

Piotrs Idee nach zwei Bier und einem Glas Dornfelder: Warum reisen die Soldaten nicht mit Familie an? Das würde Farbe ins Camp bringen. Internationaler Kindergarten, und zweimal im Monat schwebt die Familienministerin ein. Oder: Patrouillenfahrten für deutsche Touristen. Das würde den Rückhalt an der Heimatfront stärken. Und Geld einbringen. Piotr hat viel von der Welt gesehen: War in Amerika als Korrespondent, in Moskau – jetzt in Berlin. Im Mai wird die Redaktion Berlin dicht gemacht. Sparen, sparen, sparen.


Und Tschüss

Natürlich haben wir den ersten Flug erwischt. Einchecken um 4.45 Uhr.  Aufstehen um vier. Nach dem Einchecken: Frühstück in der Kantine. Der Flug verzögert sich um mehr als eine Stunde. Dann die Durchsage: Boarding in fünf Minuten. Die fünf Minuten dauern einen Tick länger. Nach 48 Minuten: „Please go to exit two. The bus is waiting.“ In der Transall wird beim Zählen der Passagiere ein Fehler gemacht. Schon wollen sie das ganze Gepäck wieder ausräumen, da zählt noch mal durch. Jetzt stimmt es. Abflug. Der Tag besteht aus Warten. Ein letztes Mal: Mc Donalds Termez. Gnocchi in Käsesauce mit Straußengeschnetzeltem und Schokocreme. Kaffee in der Area 51. Haare schneiden beim usbekischen Frisör. Einsvierzig. Piotr gibt zwei Euro. Schließlich, um 15.30 Uhr Ortszeit: Einsteigen in den Airbus. Es stellt sich heraus: Ein Passagier fehlt. Ein Leutnant Weser. Noch mal durchzählen. „Leutnant Weser, bitte mal nach vorn kommen.“ Wenn der Weser nicht kommt, muss alles Gepäck ausgeladen werden. Lieber noch mal durchzählen. Abgleichen der Passagierlisten. Jetzt fehlt ein Herr Schmidt, der aber auch nicht nach vorne kommt. Nach einer Stunde stellt sich heraus: Es stimmt doch alles. Abflug. Sieben Stunden später: Landung in Köln. Manche werden abgeholt. Die Verwandtschaft hatte kleine Geschenke mitgebracht. Wiedersehensfreude auf engstem Raum. Unter Zeugen. ISAF OUT. Was sagst du jetzt – in dem Augenblick, auf den du seit vier Monaten hingelebt hast? Laufen jetzt Vorstellung und Wirklichkeit synchron? „Junge, hast du auch gut zu essen gehabt?“, fragt eine Mutter.

Jetzt wird es Zeit, sich eine Meinung zurechtzulegen. („Na, wie war’s in Afghanistan?“ "Lohnt sich die Sache?“) Ich habe in Mazar keinen Krieg erlebt. Bei jedem Schützenfest auf dem Lande wird mehr geschossen. Ich weiß noch immer nicht, wie sich Krieg anfühlt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn sie einen Sarg vorbeitragen. Alles andere war so erschreckend normal. Keine besonderen Vorkommnisse. Und doch gibt es all die Traumatisierten. Ich habe sie nicht getroffen. Habe nichts Schlimmes erlebt. Draußen vor dem Flughafen: Dichtes Schneetreiben. Die Rückfahrt kann gefährlich werden.

Informationen:
Im Januar 2010 kamen 46 Soldaten der ISAF-Truppen durch Anschläge beziehungsweise Gefechtshandlungen ums Leben. Außerdem kamen 128 Soldaten beziehungsweise Polizisten der Afghan National Army/Afghan National Police ums Leben. (Quelle: Bundeswehr)

Transall

 


Heiner Frost
Erstellt: 03.02.2010, letzte Änderung: 11.02.2010