„Wo
kämen wir hin, wenn jeder sagte,
wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir
kämen, wenn wir
gingen.“ (Kurt Marti)
Ob
ich mir das auch gut überlegt habe. „Ich hoffe mal,
du hast dir das gut
überlegt.“ Ob ich denn keine Angst habe.
„Ich würde mich nicht trauen.“ Was
denn die Familie dazu sagt. „Und was, wenn du nicht
zurück kommst?“ Afghanistan
ist kein Urlaubsziel. „Hättest du dir nicht was
Schöneres aussuchen
können?“ Fragen
im Vorfeld: Was möchten Sie machen? Wollen Sie auch mal raus?
Ja, möchte ich.
„Wir stellen Ihnen dann mal was zusammen.“ Ich
korrespondiere mit dem EinsFüKdo
Bw in Potsdam. Einsatzführungskommando der Bundeswehr. Es geht
um
Genehmigungen, Bestätigungen, Anträge, ein Visum
für Afghanistan. Afghanistan
ist nicht die Riviera. Koffer packen und los – das reicht
nicht. Die
Vorbereitungen haben schon im Herbst 2009 begonnen. Grund
der Reise: Sattler, Klaus Sattler. Oberstabsfeldwebel. Wohnhaft in
Goch.
Arbeitet in der von Seydlitz Kaserne in Kalkar. Jetzt eingesetzt in
Mazar-e
Sharif, Afghanistan, Camp Marmal. Mal sehen, was er macht. Der Mann ist
Pressesprecher. Das
ist – wahrscheinlich – ein Job diesseits der
„kriegsähnlichen
Zustände“. Zweimal
ist die Reise abgesagt worden. Das erste Mal vor zwei Jahren. Die
Koffer standen
gepackt. 24 Stunden
vorher: Die Absage. Sicherheitsrelevante
Hinderungsgründe. Zwei Jahre später: Afghanistan, die
Zweite. Absage diesmal:
Zwei Wochen vor dem Tag X. Eigentlich keine Absage – eine
Terminverschiebung.
Flieger voll. Kontingentsprobleme. Am Telefon ein Zuständiger:
„Sie haben
vielleicht aus den Medien mitbekommen, dass wir zusätzliche
Einheiten runter
schicken.“ Verstanden. „Wir melden uns.“
Zwei Tage
später: Der neue Termin. 26. Januar bis 30 Januar –
ein Tag
weniger als ursprünglich geplant. Es gibt zwei
„Reisemodelle“: Dienstags hin,
freitags zurück, oder: Freitags hin, mittwochs
zurück. Das hat etwas mit der
Relaisstation zu tun: Einreise über Termez, Usbekistan.
Aufenthalt: Eine Nacht. Zeltlager.
Am nächsten Tag: Shuttle nach Mazar-e Sharif. Dann: Vier Tage
Kriegsnähe.
Zurückkommen und eine Geschichte haben. Vorgeschobener
Beobachter. Blicke in
ein Leben an der Demarkationslinie. Blicke in den Soldatenalltag. Wie
leben
die? Was machen die? Das Protokoll eines Fremdzustandes. Die Suche
nach der einen, großen Geschichte. Das ist eine Art von
Schönheitschirurgie: Alltagsvergrößerung.
Das besondere Erlebnis wird Abenteuer genannt.
Von
irgendwoher taucht ein Schmerz auf. Zuerst – auf den Tag
verteilt – eine eigenartige
Betäubung des Gefühls bei voll einsetzbarem
Beobachtungsbesteck. Das
Perverse
beim Schreiben: Die Ohnmacht findet Worte. Die Betäubung:
Alles senkt sich ab,
als ginge es in den Winterschlaf. Jetzt das Gefühl:
Wenn sie dich morgen nicht einstiegen
ließen – wärest du dann
wirklich unglücklich? Wo
kämen wir hin
...
Noch
schnell in den Supermarkt; ein bisschen was Süßes
einkaufen. Vorher Kaffee mit
Karl. Zum Abschied eine Umarmung. „Komm gesund
zurück.“ Ein Schuss durch die Deckung.
Der Ursprung des Schmerzes. Was mache ich da eigentlich? Die
Frage der Unterbringung wächst zum
Hauptsorgenfaktor in meinem Kopf.
Massenunterkünfte (Masse beginnt, wenn ich nicht alleine bin) sind meine Sache
nicht. (Bitte einmal Kriegsanschluss mit Einzelzimmer.) Wenn ich jetzt
absagen
würde – wäre das Feigheit? Gibt es einen
Auftrag? Wenn ja,
habe ich ihn erteilt. Wo kämen wir
hin ...
21.15
Uhr Ein Abschied von der Familie. Ist Abschied lernbar? Trainierbar? In
meiner
Vorstellung an diesen Augenblick war mehr Herzzerriss.
Vielleicht aber nur,
weil durch das Vorerleben ein Eigenverhalten planbar geworden ist.
(Nicht in
die Tränenfalle gleiten. Das geht nur beim Alleinsein.) Der
Gedanke, es könnte
kein Wiedersehen geben, weil etwas passiert da hinten: Undenkbar, aber
erträglich.
Die Reihenfolge würde eingehalten. Was aber, wenn ein Staat
den Eltern ihr Kind
zurückgibt: Zerschmettert. Tot. Gestorben für die
Freiheit? Welche Freiheit:
Die Freiheit der anderen. Wie denn sterben? Niemand führt
Krieg. Der Tochter
mit dem Finger ein Rufzeichen auf die Backe gezeichnet: Lang kurz.
Strich
Punkt. Es ist das Rufzeichen hinter „Ich liebe
dich“! Familieninterner Code.
Gefühlsübertragung ohne Peinlichkeit. Danach:
Fernsehen. Die Nachrichten. Bericht
aus Haiti. Menschen am Rand der Verzweiflung. Ein Land voll Chaos, und
die Moderatorin
entschuldigt sich für die schlechte Tonqualität. Es
verschlägt mir die Sprache.
Köln,
26. Januar 2010, 9.30 Uhr. Flughafen – militärischer
Teil. Abflug nach Termez,
Usbekistan, um 11.30 Uhr Zulu-Zeit. Zulu-Zeit ist deutsche Winterzeit
plus eine
Stunde. Innerhalb der NATO ist Zulu praktisch die Standardzeit.
Gültig für
alle. Man muss nicht viel rechnen. Auf
der Checkliste: Schlafsack, Taschenlampe, Badelatschen, winterfeste
Kleidung
und ... Bescheinigungen. Das Visum für Afghanistan.
Die Reiseapotheke.
Kamera,
Laptop. Nämlichkeitsbescheinigung. Was, bitte?
Nämlichkeitsbescheinigung.
Kamera, Laptop. Das gehört nämlich mir. Geht mit
rein, kommt wieder mit raus.
Hoffentlich. Der Zoll will es so. Dazu:
Haftungsfreistellungserklärung.
Zuständig im Ernstfall: Niemand. Reise auf eigenes Risiko. In
den Statuten der
Versicherungen ist Wahnsinn nicht wirklich vorgesehen. („Du
spinnst doch, dahin
zu fahren.“) Für die Versicherungen ist Krieg in
Afghanistan. Stirbt ein
Soldat, werden sie nicht zahlen. Die Bundeswehr übernimmt und
verklagt
anschließend die Versicherung. Sagt man mir.
Unter
all den Uniformierten, die drei Stunden vor dem Abflug die Halle
bevölkern, sind
die wenigen Zivilisten schnell ausgemacht. Die hier und jetzt in
Uniform auf
den Airbus warten, werden nicht am Samstag den Heimweg antreten. Ich
bin
privilegiert. Mein Turn dauert fünf Tage, der ihre bis zu vier
Monaten. Das
Einchecken – wie an jedem Zivilflughafen. Eine Spur schneller
vielleicht. Zuerst:
Die Gepäckwaage. Ich zeige meine Mitfluggenehmigung.
„Frost, Niederrheinische
Zeitung“, sagt die Dame. (Na ja, so ähnlich.) Nach
dem Sitzplatzwunsch wird
nicht gefragt. Es wird ausgehändigt: „Ihre
Bordkarte.“ Danach: Entweder gleich
weiter durch den nächsten Check oder warten. Ich entscheide
mich für Version
eins. Uhr abnehmen, Geld in den Kasten, Laptop aufs Band. Durch das
magische
Tor gehen. Es piept. („Bitte mal die Beine auseinander. Und
jetzt bitte mal
umdrehen. Vielen Dank.“) Freundlich durch und durch.
Zwei
SMS treffen ein. Rüdiger
teilt mit: In 45 Minuten wird die Kanzlerin Neues zum
Thema Afghanistan sagen. Heidi mailt: „Komm gesund
zurück. LG.“ Erst einmal
gesund hinkommen. Magenprobleme. (Das sind die Nerven.) Auf der Suche
nach
einem Lächeln auf all den fremden Gesichtern werde ich nicht
fündig. Ein
Mitflieger wünscht am Eincheckschalter einen guten Morgen. Das
ist besser als
eine Heizung. Heute
nichts gefrühstückt. (Was nicht drin ist, kann nicht
raus müssen.) 150 Minuten
bis zum Abflug. Welche Geschichte müsste ich jetzt erfinden,
um ohne
Gesichtsverlust aus dieser Nummer auszusteigen – jetzt und
hier? SMS
an Rüdiger: „150 Minuten bis zum Abflug.
Fühle mich wie betäubt. Magenschmerzen.
Warum tue ich mir das an.“ Ich finde das Fragezeichen nicht.
(Es gibt keinen
Zufall.) Keine Fragen jetzt. Der Handy-Akku kurz vor dem Aufgeben. Wie
fühlen
sich die, die jetzt in Uniform hier sitzen und warten? Jetzt lebt jeder
die eigene Ahnung. Die eigene
Vorstellung.
Der Blick nach vorn ist ein Blick nach innen.
In
der Abflughalle sind jetzt fast alle Altersklassen am Start.
Wahrscheinlich
auch fast alle Dienstgrade, aber ich bin ja
gewissermaßen Abzeichenanalphabet. Ich war nie
Soldat. Kann die
Schulterstücke nicht lesen. Vorn, in Herzhöhe, auf
allen Uniformen:
Namensschilder. Nachnamen. Auf manchen Schildern zusätzlich:
Blutgruppen. 0+
(Wenn dich eine Kugel erwischt oder eine Mine, kann
dich niemand nach der
Blutgruppe fragen.) Mir gegenüber: Heinz. Hinten Heinz. Vorne
vielleicht:
Feldwebel. Feldwebel Heinz. Unter dem „Klarnamen“
die arabische Entsprechung.
Ein Typ in Schwarz trägt die
„Rückennummer“ BKA, ein anderer im
grünen Overall ist
hinten mit „Police“ beschriftet. Die ersten packen
ihre Stullen aus. „Im
Flieger jibts nüscht“, sagt einer. Jetzt steht fest:
Urlaub geht anders. Heinz
schläft. Der Kopf sackt wie in Zeitlupe Stück
für Stück schulterwärts. Trifft
der Kopf die Schulter, zuckt Heinz, rappelt sich hoch, reißt
die schlafwässrigen
Augen auf. Nach dem dritten Zucken: Nichts mehr. Träum
schön, Feldwebel Heinz.
Unter
all den Uniformen: Vielleicht fünfzehn Zivilisten. Kollegen?
Es ist ein
bisschen wie im Auslandsurlaub: Man meidet die Landsleute. Der
Police-Mann im
grünen Overall tippt eine SMS nach der anderen. Letzte
Grüße vor dem Abflug. In
einhundert Minuten geht es
dem Krieg entgegen. Ich kann denken, schreiben –
trotzdem: Der Zustand der emotionalen Betäubung hält
an. Wie von innen ausgeschlachtet
fühlt sich das an. Draußen:
Traumhaftes Wintersonnenwetter. Drei Grad unter Null. Beim Gedanken an
zuhause
platzt die Betäubung ab, wie rostige Farbe nach einem
Hammerschlag. Die Frage:
Wie muss sich einer fühlen, der heute der Familie für
vier Monate Adieu gesagt
hat? (Die Rückkehr der Fragezeichen.) Es
wird wenig fotografiert im Terminal. Hier startet kein Urlaubsflieger.
11.15
Uhr: Die Abflughalle gut gefüllt. Frauen sind deutlich in der
Unterzahl.
Verhältnis eins zu zwölf. Vielleicht. Die
Zivilistenzahl nimmt zu. In meiner
Vorstellung entsteht das Bild einer Dreierstube ohne
Rückzugsmöglichkeiten und
vernagelt mir den Tag. 30
Minuten bis zum Abflug. Die Busse fahren vor. Auf dem
Platz draußen: Eine Maschine mit der Aufschrift
„Bundesrepublik Deutschland“.
Daneben ein Airbus mit der Aufschrift „Luftwaffe“.
Unser Flieger. Noch gibt es
ein Zurück. Reserviert nur für mich. „Bitte
besteigen Sie jetzt den Bus, der
Sie zur Maschine bringen wird.“
Dreißig
Minuten nach dem
Start: Der Flieger zu drei Vierteln gefüllt. Berechnete
Flugzeit: Sechs Stunden, dreißig Minuten. Entfernung:
Fünftausendzweihundert. Das
Kabinenpersonal
im Overall. Gurte werden erklärt. Das Übliche. Nur:
Bei der Erklärung der
Masken, die beim Abfall des Kabinendrucks aus der Decke fallen werden,
fehlt
der Hinweis: Setzen Sie zuerst Ihre eigene Maske auf, bevor sie Ihrem
Kind
helfen.
Viel
Beinfreiheit. Null
Unterhaltungsprogramm. Dafür die Ankündigung von
Getränken,
Mittagessen und Obst. Von wegen: Jibt nüscht. Neben mir ein
Sachse in Zivil. Er
macht schon zum dritten Mal runter. Ich frage ihn, was er macht. Er
antwortet.
Ich verstehe es nicht. Will nicht nachfragen.
Es
wird früh dunkel
werden heute. Wir fliegen der Nacht entgegen. Afghanistan ist
dreieinhalb Stunden vor, Termez vier. Der Nebensachse erzählt:
Camp Marmal ist
wie Deutschland. Kein Problem. Alles friedlich. „da wird
weniger geschossen als
bei uns auf dem Schützenfest.“ Kundus –
eine andere Nummer. Mit Vorsicht zu
genießen. Wörtlich und überhaupt auch
sonst. In Kundus ist der Flughafen eine
Schotterpiste, sagt der Nebensachse. „Zwo Tage Regen
– zehn Tage Delay. Nichts
geht mehr. Alles
schon vorgekommen.“
16.20
Uhr nach mitgenommener Zeit. Das Mittagessen: Rosenkohl, zwei Scheiben
Schweinebraten
(gibt es Vegetarier unter den Soldaten?),
Brötchen, Vollkornbrot, Butter, Käse,
Marmelade, Orangensaft und eine nicht näher definierbare, aber
durchaus leckere
Süßspeise in der geschmacklichen Nähe von
Orangencreme mit Kokosflocken drauf.
Einstellen der Uhr auf Ortszeit Termez. Plus vier Stunden also. Geschätzte
Ankunft: Zweiundzwanzigfünfzig.
Die Nacht im Zelt wird kurz werden.
Ich
erinnere mich an Sattlers erste Mail: „In Termez kann man
nicht verschlafen.
Die Zelte gleich neben dem Rollfeld.“ Große
Vögel – großer Lärm. Im Flugzeug
wird gelesen oder geschlafen. Der Nebensachse ist leidenschaftlich in
ein
Motorradmagazin vertieft, leiht sich einen Kugelschreiber, um ein
Inserat zu
markieren. („Nochhör kannste sönst
nüscht fünden.“)
Die Sitzreihen im Flieger: Zwo, vier, zwo.
Der Nebensache und ich: Zweierkonstellation – Flugrichtung
rechts. Ich am Gang.
Die Zivilisten links von mir entpuppen sich als Nichtkollegen. Das
lässt sich
aus Gesprächsfetzen schlussfolgern. Also: Nicht alles ohne
Uniform ist Presse.
Vielleicht also doch Krieg mit Einzelzimmer. Ich baue Hoffnung an.
Termez,
0.30 Uhr. Das hier nennen sie „Safe Heaven“.
Erklärt der Offizier, der hier und
heute für die fünf Presseleute zuständig
ist. Alles ist straff
durchorganisiert. („Presse zu mir!“) Die Presse:
Ein CNN-Team – Moderator und
Kamerafrau, ein Redakteur von Loyal, einer Zeitschrift für
Sicherheitstechnik,
ein Pole, der in Berlin für Rzeczpospolita
auslandskorrespondiert und ich. Safe
Heaven in Usbekistan. „Wenn in Mazar die Hütte
brennt, kommen sie alle erst mal
hierhin.“ Der Airbus fliegt
nicht nach Mazar. Kein ESS. (Elektronischer
Selbstschutz mit
Täuschkörperausstoß.)Luftlinie Termez
– Mazar: Keine hundert
Kilometer. Trotzdem müssen alle raus. Ab Termez regiert die
C160: Transall.
Seitdem der Verteidigungsminister – Hände in die
Hüfte gestemmt – im Flieger im
Kreis von Soldaten fotografiert wurde, weiß die Republik mehr
über das
Innenleben der Transall. Die C160 ist ein Flieger aus dem letzten
Jahrtausend –
hat einiges an Jahren auf dem Buckel, aber das Ding fliegt und fliegt.
Beim
Aussteigen haben sie unsere Pässe eingezogen. Wir sind
Transit. Ein Herr Schulz
in Uniform weist uns ein. „Wenn jemand sich hier nicht an die
Regeln hält, wird
er morgen zurück geschickt.“ „Wer will
denn nach Usbekistan abhauen?“, fragt einer.
Striktes Fotografierverbot auf dem gesamten Gelände. Wer sich
nicht daran hält
... Striktes Verbot des Tragens von Kopfbedeckungen.
Wer sich ... (So also
käme
man jetzt noch raus aus der Nummer. Einfach über den Zaun
klettern und sich
erwischen lassen: Ende einer Dienstfahrt.) Die Kamerafrau
darf in den VIP-Container. (Das nächste Mal geh‘ ich
als Mädel.) Die Herren kommen
ins VIP-Zelt. Ein Zelt von vielleicht sechs mal acht Metern mit
vierzehn
Feldbetten – aufgeteilt auf vier Herren: Fast ein
Einzelzimmergefühl. Die
Temperaturen: Erträglich. Um die zehn Grad. Aber: Regen.
(„Den habt ihr
mitgebracht.“) Nach dem „Verbringen des
Handgepäcks“ ins Zelt und dem Besetzen
der Liegen: Kantinengang. („Die Küche ist noch
warm.“) Dabei vorbei an der
Stelle, wo wir später ans Großgepäck
gelassen werden, um Nötiges für die Abend-
und Morgentoilette mitzunehmen. Das Großgepäck wird
gleich danach für den
Morgen vorbereitet. Erst „gehen die Hunde
drüber“, dann wird alles auf
Großpaletten verladen. Die haben verschiedene Farben.
Für die verschiedenen
Ziele. Es ist einiges im Angebot. Aber: Egal, wer nun morgen wohin muss
–
zunächst gehen alle Flieger nach Mazar. Shuttles im
Stundentakt. Das Gepäck:
Spürhunddurchforstet. Es wird nach Drogen gesucht. Wieder und
wieder. Drogen?
Wie bescheuert muss einer sein, hierhin mit Drogen anzureisen?
(„Alles schon
vorgekommen“, sagt einer.)
Die
Strecke von Termez nach Mazar: Gerade mal zwanzig Minuten Flugzeit. Ein
Hopser
– aber einer, der Arbeit macht. Der Stützpunkt
Termez arbeitet praktisch nur
für das Transitgeschäft. Würde der Airbus
direkt nach Mazar fliegen, könnten sie
hier dicht machen. Auf zur
Kantine. Ein Zelt für vielleicht dreihundert Mann.
Draußen ein Schild: Dorfplatz Termez. Brot, Wurst, Marmelade
und Schweinegeschnetzeltes.
Ganz nach Belieben. „Vielflieger“ sind begeistert
von der Kantine. „Die sind
echt gut hier“, sagt einer. Das Gästebuch sagt es
auch: „Super Essen“ – gleich
der erste Eintrag. Und so geht es weiter. Über der
Essensausgabe: Das Goldene
M. Mc Donalds Termez. Die Küchenmannschaft
beliebt zu scherzen. (Mit witzigen Schildern haben
sie’s hier.) Das
Essen: Wirklich Super. Getränke – ohne Alkohol
– nach Wahl. CNN und Loyal
sind alte Termezhasen und
empfehlen die „Area 51“ – amerikanisch
ausgesprochen: Äria fifftiwann. Da gibt
es anderes als Fruchtsäfte, Tee und Kaffee. Einmal im Monat
fährt ein Lastwagen
von Hamburg nach Termez und bringt Getränke für die
Bar. „Nicht wirklich,
oder?“ „Doch.“
Termez:
Stützpunktpersonalzahl: 86. „Waren mal
302“, sagt unser Fremdenführer. Dann
wurde die Transallflotte nach Mazar verlegt. Ende. 60 Euro
gibt’s für den Tag
in Termez. Wer weiterfliegt, erhält das Doppelte.
„Das hat was mit der
zunehmenden Gefahr zu
tun“, erklärt einer und fügt hinzu:
„In Mazar ist eigentlich
keine Gefahr. Kundus – das ist eine ganz andere
Sache.“ (Hab ich schon gehört.)
CNN und Loyal fachsimpeln. Es geht
um
Afghanistan im Allgemeinen, die Bundeswehr im Besonderen – es
geht um Waffen,
Preise, Sicherheit. Die Afghanistan-Konferenz, die neue Strategie. Hier
wird
Meinung produziert. Die Nachrichtenmaschine – eine
Art Deus ex macina. Was
kostet uns eigentlich dieser Einsatz? Am Tag? Im Monat? Übers
Jahr? „Circa eine
Milliarde“, schätzt einer. „Ein
Fliegenschiss im Angesicht der Hypo Real
Estate.“ Die
Frage: Wie wird die neue
Strategie aussehen? („Gibt’s schon was im
Internet?“) Dann: Die Waffen. Der
Fuchs: Oft kopiert. Nie erreicht. „Ihr müsst
unbedingt eine Patrouille fahren“,
wird empfohlen und es
klingt so, als triffst du in Amerika einen Deutschen, der
sagt: „Vergiss nicht den Grand Canyon.“ Nach dem
Essen Marsch ins Zelt. Vor dem
Schlafengehen ein Gang zum Toilettencontainer. Zähneputzen,
Katzenwäsche.
Ortszeit: 0.30 Uhr. Innere Zeit: minus vier Stunden. Trotzdem:
Geschlafen
werden muss. Der Schlaf: Ein Seidenschal bei Nachtfrost. Viel zu leicht.
Aufstehen
um sieben. Gang zum Toilettencontainer. Da ist einiges los. Danach: Mac
Donalds,
Termez, die Zweite. Brot, Müsli, Obst, Eier – was
man so braucht. CNN führt das
iPhone vor. „Ein Netz in Usbekistan. Spiegel Online. Alles
super.“ Draußen
Bindfadenregen der Marke Niederrhein. (Den hatten wir ja mitgebracht.)
Danach
Einchecken Richtung Mazar. Die Gelbe Gruppe. Grün
geht nach Kundus. Es gibt
drei weitere Farben. Im Wartezelt hat das Wasser die Bodenplatten
zugedeckt. Es
kann noch einen Moment dauern bis zum Abflug. Dann: Namentlicher
Aufruf. Mein
Magen spielt verrückt. Ab in den Bus. Auf zum Rollfeld. Da
steht der Bus erst
einmal zehn Minuten im Regen. Wörtlich und überhaupt.
Dann Ausstieg. Rückgabe
der Identitäten. („Hier ist Ihr Pass.“)
Jetzt die Transall: Das Hinterteil
klafft offen zum Einstieg. Die Sitze: Marke jetzt geht’s los.
Flugzeit: Irgendwo
zwischen vierzehn und dreißig Minuten. („Viel
Vergnügen.“) Ich muss an den
Kapitän vom Vortag denken: „Wir wünschen
Ihnen eine gute Weiterreise, wohin
auch immer. Passen Sie gut auf sich auf.“ Dann startet der
Shuttle. In Mazar
steigen die „Heimatflieger“ Richtung Termez ein.
Ende eines Auslandseinsatzes.
ISAF OUT steht auf den Schildern an ihrem Gepäck. ISAF steht
für International
Security Assistant Force. OUT steht für: Ab nach Hause.
Das
Hinterteil der Transall klappt auf. Bitte aussteigen. Rauf auf den Bus.
Ab zum
Terminal. Warten auf das Gepäck. Wer von hier aus
weiterfliegt, holt sein
Gepäck und packt es auf die nächste Palette, versehen
mit Ortsangabe und Farbe.
CNN will nach Kundus. Oder war es Kabul? Loyal
reist weiter nach Faisabad: Blaue
Palette. Der Flug wird sich verzögern. Wetterding. Prost
Mahlzeit. Polen und
ich werden vom Presseoffizier in Empfang genommen. Der muss noch ein
paar
Sachen regeln. (CNN, Loyal). Kein Problem. Danach: Fahrt zu den
Unterkünften.
Camp
Marmal im Regendunst. Krieg mit Einzelzimmer oder nicht? Antwort:
Doppelzimmer.
Für eine Stunde. Danach: Umdisposition. Zwei Männer
– nur ein Stubenschlüssel.
Schwer zu koordinieren. Zumal Polen und ich nicht dasselbe Programm
haben. Es
stehen Stuben frei. Da geht was. Also: Einzelzimmer. Dafür
vielleicht kein
Krieg. Oder doch? „Morgen fahren Sie dann beide
Patrouille.“ (Grand Canyon für
Anfänger.) Erstes
Briefing im Pressebüro. Fakten, Fakten, Fakten. Frost trifft
Sattler. „Herzlich
Willkommen im Camp Marmal.“
Dergleichen nennt man „lokale Anbindung“.
Afghanistan ist das eine. Einer von uns ist da. Das ist das andere.
Nichts für
CNN. Acht „Human Interest Stories“ hat das Team auf
Halde. Nichts davon wurde
gesendet. Schade eigentlich. Also ab nach Kundus. Von da aus: Schalte
nach
Deutschland. Merkel und Karsai. „Für wen schreiben
Sie eigentlich?“ „Werden Sie
nicht kennen. Kleines Blatt vom Niederrhein.“
„Aha.“
Das Programm für den ersten Tag: Mittagessen. Danach Camprunde mit Klaus Sattler. Erster Merksatz: „Wir sind hier die einzige Parlamentsarmee.“ Auch wichtig: Bei Vielem, was ab jetzt gesagt wird, ist Namensnennung eher nicht gefragt. Nicht alles, was gedacht wird, ist auch offiziell. Ohnehin: Allenfalls Vornamen. Nachnamen sind abzukürzen oder zu erfinden. Ausnahme: Sattler, Klaus.
Das Camp ist ein finsterer Ort. Am Abend fällt das Lager in Dunkelheit. Die Devise: Wenn keiner dich sieht, fällt das Zielen schwerer. In mondlosen Nächten gehört die Taschenlampe zum "Ausgehbesteck". Sattler sagt: „Es ist alles da, was man zum Leben braucht.“ Das Merkwürdige am Leben: Die Freude beginnt ja erst, wenn mehr da ist, als du brauchst. Die Erlebnismöglichkeiten sind nach einem halben Tag ausgeschöpft. Für die meisten, die hier sind, bedeutet Feldlager: Kein Wochenende. Es wird durchgearbeitet. Sieben Tage die Woche. Niemand ist zum Spaß hier. „Am Schluss lebst du von den Reserven“, sagt Sattler. Er hat noch fünf Wochen und ist im Countdownmodus angekommen. Nicht, dass er die Krise hätte, aber: Es wird Zeit für ihn zu gehn. Er ist bei der eisernen Reserve angelangt. Viel mehr geht nicht. Abhängen geht anders. Als Informationsmeister des Geschwaders hat er reichlich zu tun. Die Tage sind lang. Gut so. Was soll man schon tun im Camp Marmal. Nicht, dass es gar nichts gäbe. Zu nennen wären: Zwei Cafés, ein Fitnessraum, ein Internetcafé, eine Kapelle. Ein „Ich bin dann mal weg“ – das gibt es nicht. Nach einer Woche in der Kantine, beginnt das Wiederholungspaket, und in Sachen Verpflegung gilt: Wenn man hier zum nächsten Italiener geht, trägt der Uniform und hat keinen Pizzaofen.
Die Stuben: Zwölf Quadratmeter – wenn es gut läuft, mit nur zwei Mann besetzt. Es können aber auch drei sein. An der Stirnseite – gleich unter einem Minifenster – ein Einzelbett, an der Längsachsenwand: Ein Doppeldeckerbett. Das Fensterbett: Heiß begehrt und oft nach der Devise „ober sticht unter“ vergeben. Übersetzung: Ein höherer Dienstgrad kann als Argument dienen. Wenn man die Spinde richtig stellt, entsteht für den Einzelbettinhaber eine Art von abgetrenntem Raum. Drei Quadratmeter künstliche Einsamkeit. Nichts für Individualisten.Im
Camp: Kein Grün. Nur Straßen, die Wohncontainer
– hier Shelter genannt – und,
wo noch nichts steht: Kies. Sattler sagt: Der Kies hat was mit dem
Getier zu
tun. Zwei giftige Spinnenarten gibt es in der Gegend. Die Spinnen
scheinen
keinen Kies zu
mögen. Giftige Spinnen lassen sich problemlos in diese
Atmosphäre
hineindenken. Zwischen Straßen und Gebäuden: Hier
und da Zelte – umzingelt von
Sandsäcken. Die Zelte werden gebraucht, wenn es in Zeiten des
Kontingentwechsels
zu Überbelegungen kommt. Alle Verbindungen laufen
über Mazar. Wer nach Hause
darf und aus Kundus kommt, Kabul oder Faisabad, hat Aufenthalt im Camp
Marmal.
Manchmal wird „vorgeshuttlet“. Heißt: Ist
die Wetterprognose schlecht, rücken
die Heimflieger eher im Camp ein. Wer Pech hat, ist dann ein paar
Nächte im
Zelt untergebracht.
Der
Himmel über Mazar: Grau in Grau. Jogger drehen Camprunden
zwischen
Militärfahrzeugen. Ab und an: Soldaten auf dem Rad. Radeln
lohnt sich: Das
Gelände - ein Kilometer in der Breite, zwei in der
Länge. Manche verlassen es
in vier Monaten nicht ein einziges Mal. Schließlich gibt es
genügend
Tätigkeiten, die keinen „Landgang“
beinhalten. Sattlers
Bürofenster gibt den Blick auf das Flugplatzgelände
frei. Shuttleflüge werden
abgewickelt. Transalls beladen. An einem schlechten Tag muss es
deprimierend
sein, wenn die Transall Richtung Termez abhebt mit den Heimfliegern an
Bord. Dann
hilft nur ein Blick auf den Motivator. Das ist der Bildschirmschoner auf dem
Bürorechner. Er zählt den Countdown der Lagerzeit bis
auf die Sekunde herunter
und zeigt gleichzeitig das Anwachsen der
Auslandsverwendungszulage. Hinter
dem Gebäude des Geschwaders, in dem sich Sattlers
Büro befindet: Der
Raucherkampfstand. Geraucht wird viel im Camp. Fast überall
haben sich die
Raucher kleine Unterstände gebaut. Rauchen im Regen
– das muss niemand haben. Rauchen
kostet nicht viel im Camp: Elf Euro die Stange. Sattlers
Raucherterrasse: Ein
Ansatz deutscher Wochenendgemütlichkeit: Klappstühle,
ein Kicker. Hier tritt
die Bundeswehr auch schon mal gegen die Zivilbevölkerung an.
Es gibt Leute aus
der Umgebung, die einen Job im Camp haben: Handwerker, Putzleute. Die
Jobs sind
begehrt, denn sie bringen bis zu 500 Euro im Monat. Für
Einheimische ein
Vermögen. Für die Soldaten knapp fünf Tage
Auslandsverwendungszulage. Eine
Ärztin in Kundus hat ihren Job aufgegeben und arbeitet jetzt
in einer
Campputzkolonne. Noch Fragen? Nach dem Kickern: „Thanks for
the game.“
Der Campladen: Supermarktatmosphäre. In den
Regalen: Weihnachtszeitreste zum Sonderpreis.
Schokoladenweihnachtsmänner konkurrieren mit Zigaretten,
Hygieneartikeln und Büchern. "Mein Papa ist Soldat" lautet einer der
Titel. Daneben: Krimis. Meterware. Bier auf Paletten. Parfum. Die
Preise: Niedrig. An einer der Campstraßen eine Art Bazar. Betrieben von
Afghanen. Teppiche, Turnschuhe, technisches Gerät. "iPhone für zwanzig
Euro? Kein Problem. Du darfst nur nicht erwarten, dass es funktioniert."
Sattlers
heilige Viertelstunden: Der tägliche Anruf nach Hause. Dann
heißt es für den
Rest der Welt: Wir müssen leider draußen bleiben. Wegtauchen aus dem Lageralltag
– Eskapismus am Telefon. Ein Stück Halt vor der
Kante, an der es steil bergab
geht in Richtung des Trübsinns. Sattler sagt:
„Hänger gab es nur einen bisher.
Heiligabend.“ Ansonsten geht’s. Genug zu tun.
Arbeit nicht als Droge, aber doch
mindestens als konzentrierte Ablenkung.
Sattlers
Zeit läuft
aus. Allerdings heißt es auch in diesem Jahr für
ihn: Minus
Karneval. Er wäre gern dabei gewesen. Im Camp gilt: Wer sich
mit den Nötigsten
zufrieden gibt, wird kein Problem haben. Natürlich: Unser
Nötigstes ist ein
anderes als das der Leute, die hier leben. Auszugeben gibt es im Camp
kaum
etwas. Einzig das Kommunizieren mit der Heimat geht ins Geld.
„Bei der
Truppenbetreuung muss unsere Armee noch viel lernen“, sagt
einer. „Bei den Amis
ist sowas kostenfrei. Die wissen, wie’s geht.“
Dafür müssen die Kollegen Amis
mindestens für ein Jahr hier sein. Gegen diese Vorstellung
sträubt sich meine
Fantasie.
Das
Camp ist umgeben von der sogenannten Blue-Box, einer Art
Zehn-Meilen-Zone auf dem Land. Die Blue-Box steht 365 Tage im Jahr
unter
Bewachung -
durchgehend. Es leben Leute in der Blue-Box. Die Deutschen unterhalten
ein
gutes Verhältnis zu ihnen. Für die Dörfer
– die meisten bestehen aus Lehmhütten
– gibt es sogenannte Dorffeldwebel. Sie halten den Kontakt zu
den Menschen.
Reden. Sorgen, wenn nötig, für Hilfe. Liefern ab und
an Baumaterialien oder
gewähren die Möglichkeit, dass die Menschen aus der
Box sich in der Camp-Klinik
behandeln lassen. Auf den Gängen vor den Arztzimmern sitzen ab
und an Frauen in
Burkas. „Wir
sind Gäste in diesem Land“,
beschreibt Sattler die Grundidee des Hierseins. Bei den Amis sei das
anders.
Sattler spricht nicht von Cowboys, aber irgendwie geht die erste
Assoziation in
diese Richtung. Längst allerdings interessieren sich Obamas
Generäle für das
deutsche Modell, das nicht ganz so uneigennützig ist, wie es
beim ersten Hören
den Anschein haben mag. „Wir fahren gut damit“,
sagt Sattler. „Jemand, der bei
uns im Camp arbeitet und sein Geld verdient, ist unser Freund. Der wird
dafür
sorgen, dass seine Arbeitgeber nicht angegriffen werden.“ In
den Dörfern ist es
dasselbe. Kürzlich erst wurden die Deutschen gewarnt. Jemand
hatte einen
Unbekannten beobachtet, der an der Straße irgendwas buddelte.
Er sprach mit dem
Dorffeldwebel. Der schickte den Kampfmittelräumdienst zu der
Stelle, die der
Mann beschrieben hatte. „Die haben dann die Vorbereitung
für eine Sprengfalle
gefunden“, sagt Sattler und ist ziemlich sicher:
„Wenn du einfach mit einem
gepanzerten Fahrzeug durch die Dörfer rollst und niemals
absitzt, wird es die
Leute einen Scheiß interessieren, ob jemand anderes dich
wegsprengen möchte.“
Nicht wenige im Camp sind der Meinung, dass es nicht darum gehen kann,
den
Afghanen die Kultur zu bringen. Sie haben schließlich selber
eine. Es kann
nicht darum gehen, den Menschen im eigenen Land ihre eigene Kultur zu
verbieten. Das Problem: Der Gegner trägt keine
Uniform. Jeder kann es
sein: Das Kind auf der Straße, die Frau an der Ecke, der Mann
auf dem Motorrad.
Die Folge: Ein Generalverdachtsdenken. Wenn jeder dein Feind sein
könnte,
findest du die Freunde nicht, außer, sie tragen (d)eine
Uniform. Für diese
Denkungsart muss man geboren sein. Schnell ist der Kopf an einem Punkt,
der
keinen Platz lässt für Kompromisse. Es geht um
schwarz und weiß. Aus Sicht der
Soldaten ist jede Kampfhandlung ein Wagnis, denn sie kann vor einem
deutschen
Gericht enden. Aus Soldatensicht ein manchmal unauflösbares
Paradox. Wie
kommt einer wie Guttenberg eigentlich an bei der Truppe. „Den
haben sie hier
gefeiert wie einen Pop-Star“, erinnert sich Sattler. Endlich
mal einer, der
sagt, was hier abgeht. (Das Wort von den kriegsähnlichen
Zuständen.) Warum dann
nicht gleich Krieg. Sattler hat die Antwort. „Es gibt
natürlich eine Definition
für den Begriff Krieg. Krieg ist eine bewaffnete
militärische
Auseinandersetzung zwischen zwei (oder mehr) Staaten. Das trifft hier
nicht zu.
Trotzdem: Die Diskussion um Krieg und kriegsähnlich wirkt
spitzfindig. „Wenn du
die Jungs fragst, was hier los ist, werden sie sagen: Krieg.“
Mazar ist relativ
friedlich. In Kundus gehören Angriffe zum Alltag. Wenn die
Patrouillen
rausfahren, gibt es fast immer Beschuss. „Die riskieren da
ihren Hals. Da
herrscht eine ganz andere Stimmung“, sagt Sattler. Er war
zweimal da und ist
froh, in Mazar zu sein. „Gestorben wird in Afghanistan jeden
Tag“, sagt
Sattler. Aber im Bewusstsein der Menschen zuhause taucht das nicht auf.
Das
Lagebild des 26. Januar: Raketenangriff
auf das Camp Ghormach im Norden. Keine Toten. Keine Verletzten. Kabul:
Ein
Selbstmordattentäter sprengt
sich in die Luft. Acht verwundete Amerikaner. Elf
verwundete Afghanen. Region Ost: Kunar. Angriff auf eine amerikanische
Patrouille. Ein Soldat getötet. (KIA – killed in
action.) Vier Verletzte. (WIA
– Wounded in action.) Kandahar: Raketenangriff auf einen
Konvoy. Ein Soldat
getötet. Kaum ein Tag ohne Tote. „Vor allem die
Amerikaner und die Briten
zahlen einen hohen Blutzoll“, sagt Sattler. Bei
der Camprunde kommen wir am Ehrenhain vorbei. Flaggen aller beteiligten
Nationen. Eine Wand mit Schildern. Es sind Namensschilder. Die Toten.
Später in
der Kapelle, in der auch die Gottesdienste stattfinden: Das Bild eines
jungen
Soldaten. Freundlich lächelt er in die Kamera. Der Trauerflor
sagt: Jetzt
lächelt er nicht mehr. Neben dem Bild: Kerzen. Vor dem Bild
ein Trauerbuch.
Auch Sattler schreibt etwas hinein. Wer will den Eltern dieses Jungen
erklären,
warum ihr Sohn gefallen ist? Überhaupt: Gefallen –
das klingt immer ein
bisschen so, als würde einer im nächsten Augenblick
aufstehen und weiterlaufen.
Wer in Afghanisten fällt, steht nicht mehr auf. Was
wäre, wenn jetzt einfach
alle gingen – wenn die Deutschen abziehen müssten.
„Ich hätte das Gefühl, dass
wir unsere Aufgabe nicht erledigt hätten“, sagt
einer in der Kantine. Und was
ist die Aufgabe? Schweigen.
Bewusstsein
für die kriegsähnlichen Zustände entsteht
natürlich bei einem Vorfall wie dem
mit den Tankwagen in Kundus. Sattler ist sicher: „Hier kannst
du jeden fragen.
Alle werden sagen, dass Oberst Klein richtig gehandelt hat. Er wollte
seine
Leute schützen. Es gab keine andere
Möglichkeit.“ Und die Zivilisten? Wer sagt,
dass welche da waren? Das Problem in Afghanistan: Du erkennst den
Gegner nicht.
Reicht das, um eine Bevölkerung unter Generalverdacht zu
stellen? „Jeder hier
kann dein Gegner
sein, und du weißt es nicht“, sagt Sattler. (Jeder
kann dein
Freund sein und du weißt es auch nicht. Aber Freunde werden
dich nicht töten.) Ein
Krieg raubt das Stück Urvertrauen in die anderen, das doch ein
Teil des Luxus
ist, der Bestandteil von Lebensfreude ausmacht. Guttenberg ist also
everybody’s
darling. „Der Struck – der kam auch an“,
sagt Sattler. Zwei unterschiedliche
authentische Männer. Ansonsten halten viele Deutsche im Camp
nicht viel von
ihren Auftraggebern. (Die Parlamentsarmee.) Dass es wenig
Rückhalt aus der Bevölkerung
gibt, wird mit einem Mangel an Aufklärung begründet.
Die Politik erklärt den
Leuten zuhause nicht, was hier wirklich los ist. Wahrheit ist schlecht
fürs
Geschäft. Als Guttenberg hier war, hat er sich zu den Soldaten
gesetzt. Ist
nicht in Briefing-Räumen mit hochrangigen Militärs
hängen geblieben. „Der
wollte wissen, was hier wirklich läuft“, ist Sattler
sicher. „Der hat auch
seinen Leibwächtern gesagt: Wenn die Jungs hier ein Foto mit
mir zusammen
machen möchten – lasst sie machen.“ Das
kam an. Kommt an. Einer, der sich
kümmert.
Wenn
du in einem Camp wie diesem lebst, ist es gut, dass sich jemand um dich
kümmert. „Gott zum Gruß“, sagt
Pastor Andreas
Ginzel, wenn er den Hörer
abnimmt. 2006 war
er in Kundus, 2008 in
Kabul – jetzt ist er hier. Noch bis Mitte März. Ein
Militärpfarrer trägt
Uniform. Er ist ein Truppenangehöriger ohne Dienstgrad. Ohne
Waffe. Obwohl
Ginzel sich Letzteres vorstellen kann. In seinem Büro: Eine
Gitarre. Der Pastor
setzt sie bisweilen im Gottesdienst ein. Was unterscheidet ein Camp von
einer
„normalen“ Gemeinde? „Man ist hier
dichter zusammen.“ Für die Gottesdienste
haben sie mittlerweile sogar einen kleinen Chor und ein
Bläserquartett. Das
Problem: Wenn Gottesdienst ist, kann es passieren, dass die
Chormitglieder
nicht kommen können. Dienst ist Dienst und Gott kommt
später. Die Kapelle ist
ein schönes Gebäude. „Wir nennen dieses
Gebäude nicht Kirche“, sagt Ginzels
evangelischer Kollege von Schubert. „Die Kapelle ist nicht
eingesegnet. Da
können auch andere Veranstaltungen als Gottesdienste
stattfinden.“ Die
Evangelen nutzen die Kapelle, die Katholen – aber
auch Atheisten könnten sich hier versammeln. “Dann
hätte man doch auch eine
Moschee mit reinnehmen können“, sagt Piotr, der polnische
Kollege. Von Schubert sieht
ihn an: „So weit sind die hier noch nicht.“ Klare
Ansage. Ökumene geht nicht
überall. Was sagt die Geistlichkeit zum Tanklastzugangriff von Kundus?
Ginzel
ist sicher: Es gab keine andere Wahl. Und die Zivilisten? Wenn
überhaupt welche
da waren – die Taliban tragen ja keinerlei Erkennungszeichen.
Und wenn doch
Zivilisten da waren …? „…dann
hätten sie sich ja wegbewegen können
…“
Am
nächsten Tag: In Sattlers Büro schellt das Telefon.
Er sieht sich die Nummer im
Display an. „Das ist doch mal was. Mein Nachfolger ruft an.“ Folgt: Ein
20-minütiges Gespräch mit der Ablösung.
Mehrmals fallen Sätze wie: „Werd mir
bloß nicht krank.“ Oder: „Langsam ist es
genug hier.“ Zwischendurch: Nützliche
Tips für das Leben hier und den Job. Tu dies. Lass jenes. Aber
Hauptsache: Die
Ablösung kommt.
Ein
Besuch in der medizinischen Abteilung des Geschwaders. Auf die MedEvac
(Medical
Evacuation) sind sie stolz. Um das System wird die Truppe beneidet. Es
geht um
die Bergung und Rückführung von Verletzten. Ein
Transall steht in ständiger
Bereitschaft. Sie ist für Flüge in Afghanistan und nach Usbekistan
gedacht. An Bord: Möglichkeiten zur intensivmedizinischen
Behandlung. „Was
wir hier machen, ist allerdings erst der zweite Schritt“,
erklärt der
Chefmediziner. Die Erstversorgung hat bereits stattgefunden, wenn wir
einen
Verletzten in Empfang nehmen.“ Der wird dann entweder in der
campeigenen Klinik
versorgt oder ausgeflogen. „Es gibt Sachen, die in der Klinik
nicht gemacht
werden können“, erklärt der Arzt. Der
MedEvac Airbus ist für den Verwundetentransport in die Heimat gedacht:
Eine fliegende Klinik
mit Ausrüstung vom Feinsten. Er kam unter anderem auch 2004
beim Rücktransport
von Verletzten nach dem verheerenden Tsunami im Indischen Ozean zum
Einsatz.
Der
normale Weg nach Hause ist ein Flug mit der Transall von Mazar nach
Termez mit
Anschluss nach Köln. Fast täglich werden
Rückkehrer ausgeflogen. Einmal
Usbekistan einfach. Am Tag vorher gibt es Abschiedsfeiern.
Heimfliegerpartys. Pro
Soldat und Tag sind zwei Dosen Bier erlaubt. Aber wenn einer zwanzig
Leute
einlädt und die Genehmigung für vierzig Dosen
bekommt, ist es natürlich
denkbar, dass zehn der Gäste kein Bier trinken. So
erhöht sich das Kontingent
für den Rest. Sattler ist trotzdem sicher: Ein Alkoholproblem
gibt es nicht.
Schwer zu kontrollieren. Im Camp in Kundus gibt es gar keinen Alkohol.
Freitag,
16 Uhr. Irgendwas tut sich im Camp. Überall marschieren
Soldaten in Gruppen
auf. An der Straße, die von der Kapelle zum Terminal
führt, bildet sich eine
Menschenschlange. Die Zufahrten werden gesperrt. Military Police
fährt auf.
Stop-Leuchtzeichen an
den Autos. Um 16.12 läutet die Glocke der Kapelle. Ich
stehe dreihundert Meter weg. Jetzt besser nicht hingehen. Dann
– in der Mitte
der Straße – eine Art Pritschenwagen. Darauf
offensichtlich ein Sarg mit norwegischer
Flagge. Da tritt einer die Heimreise an. Das geht jeden hier etwas an.
Was
sagte Sattler gestern? Hier wird jeden Tag gestorben. Später
erfahre ich, dass
es schon am Wochenbeginn ein Norweger getötet wurde. Ganz in
der Nähe. Wieder
das, was man niemandem erklären kann. Das Bild mit dem
Trauerflor in der
Kapelle: Der Norweger. Das
Camp ist
jetzt noch trister als sonst. Noch ruhiger. Der Tod singt ein
Lied. Ich
gehe zum Ehrenhain – schaue noch mal auf die Namenstafeln.
Hinter einer steckt
eine Rose. Auf dem Schild der Name: Christian Schlotterhose,
Oberfeldwebel,
gestorben am 25. Juni 2005. Schlotterhose - einer, der so
heißt, muss sich über
dumme Witze nicht beklagen. „Stell dich nicht an,
Schlotterhose.“ Schlotterhose
stellt sich nicht
mehr an. Seit dem 25.
Juni 2005 nicht mehr.]
Das
Camp wird zum Alltag. Nach dem Abendessen in der Kantine geht es in die
Oase.
Wer will, kann hier – statt Kantinenessen –
Jägerschnitzel mit Pommes haben
oder Spaghetti Bolognese. Zwischen 20 und 22 Uhr: Wein und Bier. Um 22
Uhr:
Last Call. Um 22.30 Uhr: Licht aus. Die Militärpolizei ist
unnachgiebig. Es
wird dicht gemacht. Nur im Internetcafé und in der
Fitnesshalle ist
weiterhin
Betrieb. Draußen hat es geschneit. Ein paar Soldaten kratzen
Schnee von den
Tischen im Atrium: Schneeballschlacht im Camp Marmal. Die Munition ist
schnell
aufgebraucht. Mit Piotr Bier und Wein getrunken bis zum Licht aus. Dann
zurück
ins Shelter. Morgen: Der letzte Tag. Am Samstag der Rückflug.
Experten raten
für den Shuttle nach Termez zum Mittelflug. Niemand will auf
den ersten Flug.
Einchecken um 4.45 Uhr. Abflug um sieben. Der dritte Flug kann
ausfallen, wenn etwas
mit den Maschinen nicht stimmt. In Termez rieten sie für die
Rückreise immer
zum dritten Flug. Verkürzt das Warten in Safe Heaven. Was den
Airbus von Termez
nach Köln angeht, gilt: First come, first serve. Keine
Platzkarten.
Piotrs
Idee nach zwei Bier und einem Glas Dornfelder: Warum reisen die
Soldaten nicht
mit Familie an? Das würde Farbe ins Camp bringen.
Internationaler
Kindergarten,
und zweimal im Monat schwebt die Familienministerin ein. Oder:
Patrouillenfahrten für deutsche Touristen. Das würde
den Rückhalt an der
Heimatfront stärken. Und Geld einbringen. Piotr hat viel von
der Welt gesehen:
War in Amerika als Korrespondent, in Moskau – jetzt in
Berlin. Im Mai wird die
Redaktion Berlin dicht gemacht. Sparen, sparen, sparen.
Natürlich haben wir den ersten Flug erwischt. Einchecken um 4.45 Uhr. Aufstehen um vier. Nach dem Einchecken: Frühstück in der Kantine. Der Flug verzögert sich um mehr als eine Stunde. Dann die Durchsage: Boarding in fünf Minuten. Die fünf Minuten dauern einen Tick länger. Nach 48 Minuten: „Please go to exit two. The bus is waiting.“ In der Transall wird beim Zählen der Passagiere ein Fehler gemacht. Schon wollen sie das ganze Gepäck wieder ausräumen, da zählt noch mal durch. Jetzt stimmt es. Abflug. Der Tag besteht aus Warten. Ein letztes Mal: Mc Donalds Termez. Gnocchi in Käsesauce mit Straußengeschnetzeltem und Schokocreme. Kaffee in der Area 51. Haare schneiden beim usbekischen Frisör. Einsvierzig. Piotr gibt zwei Euro. Schließlich, um 15.30 Uhr Ortszeit: Einsteigen in den Airbus. Es stellt sich heraus: Ein Passagier fehlt. Ein Leutnant Weser. Noch mal durchzählen. „Leutnant Weser, bitte mal nach vorn kommen.“ Wenn der Weser nicht kommt, muss alles Gepäck ausgeladen werden. Lieber noch mal durchzählen. Abgleichen der Passagierlisten. Jetzt fehlt ein Herr Schmidt, der aber auch nicht nach vorne kommt. Nach einer Stunde stellt sich heraus: Es stimmt doch alles. Abflug. Sieben Stunden später: Landung in Köln. Manche werden abgeholt. Die Verwandtschaft hatte kleine Geschenke mitgebracht. Wiedersehensfreude auf engstem Raum. Unter Zeugen. ISAF OUT. Was sagst du jetzt – in dem Augenblick, auf den du seit vier Monaten hingelebt hast? Laufen jetzt Vorstellung und Wirklichkeit synchron? „Junge, hast du auch gut zu essen gehabt?“, fragt eine Mutter.
Jetzt
wird es Zeit, sich
eine Meinung zurechtzulegen. („Na, wie war’s in
Afghanistan?“ "Lohnt sich die Sache?“) Ich habe in
Mazar keinen Krieg erlebt.
Bei jedem Schützenfest auf dem Lande wird mehr geschossen. Ich
weiß noch immer
nicht, wie sich Krieg anfühlt. Ich weiß, wie es sich
anfühlt, wenn sie einen
Sarg vorbeitragen. Alles andere war so erschreckend normal. Keine
besonderen
Vorkommnisse. Und doch gibt es all die Traumatisierten. Ich habe sie
nicht
getroffen. Habe nichts Schlimmes erlebt. Draußen vor dem
Flughafen: Dichtes
Schneetreiben. Die Rückfahrt kann gefährlich werden.
Informationen:
Im Januar 2010 kamen 46 Soldaten der ISAF-Truppen durch Anschläge
beziehungsweise
Gefechtshandlungen ums Leben. Außerdem kamen 128 Soldaten
beziehungsweise Polizisten der Afghan National Army/Afghan National
Police ums Leben. (Quelle: Bundeswehr)