Schreibkraft
Heiner Frost

Physik im Auto

Raserei

Es braucht gar nicht so viel, um einen Polizisten zur Raserei zu bringen. Nein — hier ist nicht die Rede von Gefühlsausbrüchen — eher schon von Autofahrten mit leicht bis deutlich erhöhter Geschwindigkeit. Wenn es darum geht, einen Täter zu verfolgen, kann es auch schon mal etwas schneller zugehen. Unter bestimmten Voraussetzungen  wird für Einsatzfahrzeuge dann zwar die Straßenverkehrsordnung „außer Vollzug gesetzt“ — der Physik allerdings kann auch ein noch so gewiefter Fahrer kein Schnippchen schlagen, und daher müssen alle Polizisten mindestens alle drei Jahre einmal an einem Sicherheitstraining teilnehmen.

30 unter Wasser

Die „firmeneigenen“ Trainer Markus Fleuth und Franz Koppers servieren den sieben Teilnehmern des Fahrsicherheitstrainings ein Fünf-Gänge-Menu, das nicht auf Heldentaten zielt, sondern den Alltag hinter dem Lenkrad ins Visier nimmt. Alle Wagen sind mit Funk ausgestattet. Gut für den Ablauf, denn so ist jeder permanent ansprechbar. Das Motto: „30 Unter Wasser.“ Alles klar! (Unter Wasser stehen nicht nur Teile des Übungsgeländes — „UW steht für Unterband Wechselsprechfunk“ — wird dem Zeitungsmensch erklärt. Schließlich muss ja eine Kommunikationsfrequenz abgesprochen werden. ’30 Unter Wasser‘ also.) Na dann: Auf in die Übung.

Ein Sonderpreis für’s Bremspedal

Die Vorspeise: Vollbremsung. Nein — doch nicht ganz. Vielleicht mal kurz über die Sitzposition sprechen. „Alle Gelenke leicht angewinkelt, damit  — im Fall der Fälle — die Scharnierwirkung eintreten kann.“ Die Hände auf die „Viertel-Vor-Drei-Position“. Möglichst beim Lenken nicht über Kreuz greifen. Warum denn eigentlich? „Wenn der Airbag explodiert, dann passiert das mit einer Geschwindigkeit von rund 300 Kilometern pro Stunde. Wenn da ein Arm im Weg ist, wird der gegen euren Kopf geschleudert“, erklären die Trainer. Diese Vorstellung reicht für erste Verhaltensänderungen. Auf zum Bremsen. Erster Durchgang: Jeder nach eigenem Gusto. Einfach mal testen. Kleiner Hinweis am Rande: „Wer das abgebrochene Pedal mitbringt, bekommt die Kiste Bier.“ (Notwendiger Einschub: Niemand bringt ein gebrochenes Pedal. Wichtiger Zusatz: Das mit dem Bier ist halt nur ein Spruch. Don’t drink and drive.) Trotzdem: Ins Eisen gehen, als wär’s das letzte Mal. Und nicht loslassen, bis der Wagen steht. Über Funk gibt es nach dem zweiten Durchgang die Kritik vom Trainer: „Du musst drauf bleiben.“ Oder: „Das hat gepasst.“  Na dann is ja gut, Trainer. Zweiter Gang.

Fahren gegen den ersten Impuls

Auf dem Programm steht jetzt der schnelle Spurwechsel. Was macht denn Otto-Normalfahrer, wenn’s kritisch wird? Runter vom Gas — rauf auf die Bremse: Instinktverhalten. Der schnelle und plötzliche Spurwechsel wird jetzt zeigen, dass der erste Instinkt im schlimmsten Fall tödlich enden kann. Mit Pylonen wird ein Hindernis markiert. Es gilt: Schnelles Ausweichen und danach schnelles wieder „Einfädeln“ in die eigene Spur. (Fachbezeichnung: Iso-Wedel, Umgangsdeutsch: Elch-Test). Merke: „Trotz aller Technik hast du am Ende die Physik im Auto.“ Und los. Schnell stellt sich heraus: Wer beim Spurwechsel bremst oder auch nur vom Gas geht, hat schlechte Karten. Der Wagen bricht aus. Die Trainer sprechen vom „Lastwechsel“. Durch Beschleunigen oder Abbremsen verteilt sich die Last auf den Achsen ruckartig anders — Bodenhaftung geht verloren — der Wagen bricht aus: Ende der Vorstellung. „Am Gas bleiben“, kommentieren die Trainer auf ’30 Unter Wasser‘. Und tatsächlich: Das Fahrzeug bleibt stabil. Natürlich gilt auch hier: Physik bleibt Physik. Sprich: Wird das Tempo beim Spurwechsel zu hoch, hilft auch das Nicht-Bremsen nicht mehr. Eine Übung wie diese müsste man ziemlich oft wiederholen, denn um das richtige Verhalten als gelernt und abrufbar im Unterbewusstsein abzuspeichern, reichen sechs oder sieben Durchgänge nicht aus. Trotzdem: Am Ende der zweiten Übung gibt es unter den Beamten keinen „Ausbrecher“ mehr. Grenzerfahrungen …

Auf ins Grüne

Lebensrettende Maßnahmen können so einfach sein, und manches Abkommen sollte eher umgangen werden. Wer bei Tempo 80 versehentlich den Grünstreifen touchiert, reagiert schnell mit panischem Gegenlenken. Oft genug liegt hier der Grund für schwere und schwerste Unfälle. Das Abkommen von der Straße: Was tun, wenn es mit zwei Rädern oder gar auf allen Vieren ab ins Grüne geht? Antwort: Fast nichts. Oder: Auf gar keinen Fall hektisch werden. „Weich wieder einlenken“, kommentiert die Stimme auf ’30 Unter Wasser‘. Tatsächlich: Nix passiert. Gute Übung. Schnell viel gelernt.

Die Kurven-Kombi

Bei Schritt vier geht es um kombinierte Schwierigkeiten. S-Kurven, feuchte Straße, Überblick behalten. Apropos Überblick: Schon ab Lektion eins wiederholen Fleuth und Koppers das „Blickführungs-Credo“. Die Blickführung ist entscheidend — und leider oft verhängnisvoll. „Eine fast gerade Straße. Dann eine Kurve. Ein einziger Baum. Und genau gegen den ist das Auto gefahren.“ Kein Polizistenwitz, sondern oft genug traurige Wirklichkeit: Wohin du schaust, dahin lenkst du auch. Also: Bei den Übungen nicht auf die Pylone schauen, sondern auf die Möglichkeiten: Die Freiräume. Bei der Kombi wird das schnell deutlich, denn Fleuth und Koppers haben einen Kurs abgesteckt, den sie nach den einzelnen Durchgängen leicht verändern. Das merken die meisten erst, wenn sie einen Pylon gefällt haben. (’30 Unter Wasser‘ kommentiert: „Im wirklichen Leben hättest du jetzt am Ende deiner Kurve wenig Fahrbahn übrig gehalten.“) Allerdings: Nach der zweiten Kursänderung geht’s prima.

Slalom und Bestzeiten

Schlussdisziplin: Slalom. Es geht zur Sache, denn der Kurs ist lang und dummerweise noch mit Kurven verziert. Das Wichtigste: Wenn irgend möglich das Fahrzeug stabilisieren — sprich: Lenkung gerade stellen. Hektik bringt gar nichts. Weich einlenken nach den Hindernissen. Wo anfangs Pylonenfällen läuft („Kann ja mal passieren!“), kommt zur letzten Runde Präzision ins Spiel, denn die Trainer haben beschlossen: Jetzt geht es gegen die Uhr. Und die Regel: Wer einen Pylon erwischt,  ist mit fünf Strafsekunden dabei. Nein, es geht hier nicht um den goldenen Slalom-Rambo. Es geht um die Feststellung: „Weniger ist mehr.“ Zwischenbremsungen oder Gasattacken bringen eher Zeitverlust. Drei, zwei, eins — los. Kein einziger Pylon wird auch nur touchiert. Zwischen der Siegerzeit und dem „Schlusslicht“ liegen gerade einmal vier Sekunden. Die frohe Botschaft: Rasen bringt nix.

Dessert

Das war’s? Nicht ganz. Die beiden Trainer hätten da noch ein Zuckerl für den Schluss. Alle nehmen den Slalom-Parcours zweimal im Rückwärtsgang. Gut fürs Training — schlecht für den Nacken. Aber was soll’s. Alle kommen durch. Keiner streift einen Pylon. Alles bestens. Merke: Auch wenn bei der Fahrt mit Sonderrechten die Straßenverkehrsordnung außer Kraft ist — gegen die Physik kommt niemand an.

Und noch eins: Auch die beste Technik im Auto ersetzt nicht den vernünftigen Fahrer. Also dann: Ohne Blaulicht Marsch. Ach ja — da war doch noch was: Fahrphysik gilt natürlich nicht nur für die Polizei. Also: Hände auf Viertel vor Drei, Gelenke leicht anwinkeln und vorausschauend fahren. Es lohnt sich.