Schreibkraft
Heiner Frost

Nur ein Zimmerchen nirgendwo

Im Kiosk

Bernds erstes Leben begann am 28. Juni 1972. Es endete am 10. August 2003 in einem Kiosk. Bernd stand da – ein Messer in der Hand – und wollte Geld. Die Kioskbesitzerin wehrte sich. Schlug Bernd in die Flucht. Kurze Zeit später und ein paar Straßen weiter schnappten sie ihn. Am 16. Oktober 2003 das Urteil: Vier Jahre wegen schwerer räuberischer Erpressung in einem minderschweren Fall.

Abwärts

Eigentlich war Bernds Leben schon vor dem Kiosktag beendet. Es endete, als er mit dem Heroin anfing. Davor war – abgesehen von einer Jugendstrafe – alles in Ordnung im Berndleben. Elektriker gelernt. Hobby: Computer. Damit ließ sich was werden in den 80-er Jahren.
Bernd schaffte es bis zum Systemadministrator. Master of Desaster. Er war gut in seinem Job. Verdiente gutes Geld. Er landete trotzdem bei der Droge: Heroin ist eine Diktatorin, die dich beherrscht – dich nicht mehr loslässt. Es begann der Sturz in Sucht und Abhängigkeit. Ist das nicht dasselbe? Nicht für Bernd. „Sucht, das ist im Kopf. Abhängigkeit – das ist im Körper“, erklärt er den Unterschied.
Bernds Weg in der Trichter, der nur den Weg nach unten kennt: Ein schnelles Rutschen. Kurz und tief. Zuerst war die Droge Nebensache – am Ende drehte sich alles nur noch um sie. Den Job schaffte Bernd nicht mehr. Und mit dem Ende des Jobs, war auch das Ende vom Geld gekommen. Trotzdem: Für die Beschaffung des Heroins brauchte Bernd locker 150 Euro in der Woche. Dann die Sache mit dem Kiosk. Wenn Bernd heute davon erzählt, zittert ihm die Hände. Er nennt es Scham.

Eigentlich …

Eigentlich müsste Bernd sich freuen. In sechs Tagen wird er entlassen. Dann werden die Türen wieder Klinken haben – von innen. Dann kann er gehen, wohin er will – tun, was er möchte. Dann wird sein Blick nicht mehr an der Mauer abgefangen, die jeden Knast umgibt und Weitsicht unmöglich macht. Eigentlich müsste Bernd sich freuen. Aber da draußen erwartet ihn nichts. Niemand – das wäre falsch. da ist Bernds Vater, aber der ist die Woche über als Subunternehmer auf Achse. Die Stiefmutter trinkt. Schlechte Gesellschaft. Freunde? Null. Damals, am Ende des ersten Lebens hat Bernd es sich mit allen verscherzt. Die letzte Freundin: Heroin.

A bis I

Georg Rütgens ist Sozialarbeiter im Klever Knast. Er ist zuständig für A bis I. Derzeit sind das ungefähr 100 Gefangene. Den Rest vom Alphabet machen die Kollegen. Manchmal wünscht sich Rütgens einen Frauenknast. Da könnte eines der Mädels heiraten und den Buchstaben wechseln – rüber zu J bis Z. Das sagt Rütgens freilich nur im Scherz. Bernd ist G. Bernd ist einer von vielen, die Rütgens betreut. Bernd ist ein Individuum – und doch ist er Teil einer Geschichte, die Rütgens oft erlebt. Wenn am Horizont des Vollzugsplans (Infokasten) ein Entlassungsdatum aufscheint, geht es für viele um eine Bleibe.Natürlich gibt es Häuser, die Strafgefangene aufnehmen – ihnen die ersten Schritte in eine Freiheit erleichtern, die oft genug eine traurige Freiheit ist.

Drei Wünsche

„Versuchen Sie mal, heutzutage eine Wohnung zu finden“, sagt Rütgens. „Sie haben keinen Job, und wenn der Vermieter Sie dann fragt, wo sie herkommen, ist die Sache meist schon gelaufen.“ Wer will schon einen Ex-Knacki? Dazu kommt, dass derzeit kaum Wohnungen in „Harzt IV Größe“ auf dem Markt sind. „Da ist kaum was zu machen.“ Vor einer Woche waren Bernd und Rütgens zusammen in Bottrop: Wohnungssuche. In Bottrop gibt es eines dieser Häuser. Ergebnis: Warteliste. Es gibt momentan keinen freien Platz. Ein Mann im Amt sagte zu Bernd: „Wir haben hier in Bottrop zehntausend Arbeitslose. Sie werden einer davon sein.“ Bernds Chancen: Nicht die besten. Den Systemadministrator kann er vergessen. Wer will schon einen mit Vorstrafe? Bernds Elektrikerausbildung: Veraltet. Sechs Monate wird er Arbeitslosengeld bekommen. Dann Hartz IV. Ein programmierter Abstieg. Bernds Traum hat zwei Flügel: Job und Wohnung. Hätte er drei Wünsche frei, wäre das erste auf der Liste allerding: „Keine Angst zu haben, rückfällig zu werden. Die alten Freunde hätte er gern zurück – würde sich gern bei ihnen entschuldigen. Wenn Bernd darüber spricht, kommt das Adrenalin zurück. Die Hände zittern, die Stimme wird brüchig. Die Scham. Es tut weh, dass einer so blöd handeln kann und dass er dieser eine ist.

Schlechte Gesellschaft

Und was, wenn Bernd am Tag der Entlassung keine Wohnung hat? „Dann ist die Gemeinde, in der Bernd vor der Inhaftierung zuletzt gemeldet war, zuständig. Die würden ihn dann in einer Notunterkunft unterbringen“, erklärt Rütgens.
„Da trifft einer schnell die falschen Leute.“ Dass einer am Ende wieder „einfährt“ – nichts Neues für Rütgens. Bis zu Bernds Entlassung wird er noch mehrere Häuser mit ihm besuchen. Bernd wird am Samstag vor seiner Entlassung unbegleiteten Ausgang haben: Von 8 bis 18 Uhr. Gelegenheit, sich um ein Zimmer zu kümmern. Anzeigen zu studieren. Vermieter anzurufen. Im Knast hat Bernd einen Job gehabt. Er hat verdient – Geld angespart. Ü-Geld nennen sie das. Ü für Übergang. Wenn einer wie Bernd eine Wohnung sucht, muss er in der Lage sein, eine erste Monatsmiete plus Kaution auf den Tisch zu legen. Sonst geht gar nichts.

Draußen

Im Knast hat Bernd die Zeitung gemacht. Er war Redakteur. Sein Traum: Draußen eine Zeitung für Haftentlassene aufzuziehen.
Beim Gedanken an den Tag X bekommt Bernd Magenschmerzen. Herzrasen. Er reist ins Nichts. Was er gemacht hat – damals im Kiosk: Dumm. Er schämt sich. Aber in sechs Tagen ist die Strafe zu Ende. Abgesessen bis zum letzten Tag. Jetzt müsste das zweite Leben beginnen. Aber da ist nichts. Der Vater verdient gerade genug, um selbst über die Runden zu kommen.
Und die Droge? „Süchtig bist du ein Leben lang“, sagt Bernd. Das ist wie beim Alkohol. Bernd ist jetzt das, was man einen trockenen Alkoholiker nennen könnte.
Wie lange das gutgeht ist nicht zuletzt eine Frage der äußeren Umstände. Abrutschen geht immer schneller als aufsteigen. Noch hat Bernd sechs Tage, eine Wohnung zu finden. Er freut sich nicht auf draußen, aber „drin bleiben“ ist keine Option.