Schreibkraft
Heiner Frost

Never brown after six

Der Auftrag oder: Das wär‘ doch was für dich

„Das wär’ doch was für dich“, sprach die Kollegin, und es gibt Sachen, aus denen kommst du nicht mehr raus . Meine früheste Erinnerung an ein schlechtes Gewissen ist televisionär. Es war die Lenor-Frau, die sich fragte, ob sie etwas falsch gemacht hatte. In Doppelbelichtung erschien dann ihr hausfraulich geplagtes Gewissen. Ja, es gibt viele Dinge, die wir falsch machen können. Manche fallen nicht auf. Andere vielleicht doch. Vor allem dann, wenn es um das richtige Benehmen geht. Es gibt Top oder Flop, und es ist an der Zeit, Einsichten zu gewinnen. „Das wär’ doch was für dich“, sprach die Kollegin und meinte das Seminar “Guter Stil und Tischetikette“ — abgehalten im Georgia Hotel Kleve. (Es gibt Sachen, aus denen kommst du nicht raus! Also dann. Ausrede zwecklos. Und schließlich: Wer weiß schon, wofür’s gut ist … )

17.56 Uhr. Die Teilnehmer sind eingetroffen. Immerhin: Ich bin nicht zu spät, wohl aber — nach einer blitzartigen aber intensiven Selbstbespiegelung — der Underdog (= Unterthund) des Abends. Dabei hätte ich es doch wissen müssen: „Never brown after six.“ Nichts Braunes nach 18 Uhr. (Gemeint sind Kleidungsstücke.) Das Seminar wird mir den Weg weisen, und das Seminar ist Uwe Fenner. Uwe Fenner leitet — nein: Uwe Fenner ist das „Institut für Stil und Etikette Hildegrad von Heyne“. Fenner ist einer vom Schlage Cary Grant — besser noch: Er ist die Zweitausgabe eines Clifton Webb aus der Titanic-Verfilmung von 1952. Fenner begrüßt die Teilnehmer. Einer wie er würde nicht sagen: „Ich möchte Ihnen heute Abend etwas beibringen.“ Einer wie er macht Mut: „Dass Sie hier sind, zeigt, dass Sie das meiste schon wissen. Nur, wer viel weiß, interessiert sich für die Feinheiten.“ (Wer nichts weiß und weiß, dass er nichts weiß …)

„Wer Fragen hat, unterbricht mich einfach.“

Was wird gegeben? Die Simulation einer Abendgesellschaft, beginnend bei der Einladung, endend mit dem Ausklang nach dem gemeinsamen Essen. „Wer Fragen hat, unterbricht mich einfach“, macht es der Meister seinen Schülern leicht. Zwei männliche Wesen (einer davon der Meister) sehen sich einer weiblichen Übermacht von zunächst fünf erlesen gekleideten Anbetungswürdigen gegenüber. („Eine Dame wird nie etwas erwarten — sie bekommt ja ohnehin alles.“) Und die Herren? „Sie sind einzig dazu da, Ihre Dame zu bespaßen.“ (Fenner muss es wissen.) Apropos Damen: Später wird sich eine weitere Dame in Gesellschaft ihres 12-jährigen Sohnes („Dann hörst du es mal aus berufenem Munde!“) zu uns gesellen. (Zu ihrer Zeit wurde das Geradesitzen bei Tisch noch mit Büchern unterm Oberarm trainiert.)

Never brown after six

Der Meister parliert und geht nach den Formalitäten der Einladungsbeantwortungsrituale nahtlos zum Dresscode über. Da ist es: „Never brown after six“. Weder Schuhe, noch das Jacket oder das Uhrenarmband sollten braun sein. Punkt.  (Der Meister ist im blauen Baumwollanzug erschienen. Grandsegnieur der alten Schule.) Der Dresscode: Es wird unterschieden zwischen offiziell und „smart casual“. Fest steht: Es gibt Dinge, die nicht gehen. Niemals! Nie! Jeans zum Beispiel. Wir Herren lernen Frack und Smoking kennen und ihre Einsatzgebiete. Und die Dame? („Die leitet ihr Outfit aus der Garderobe des Herrn ab.“ Klare Ansage.) Ich trage — jetzt ist es 18.20 Uhr, braune Halbschuhe zur Jeans, ein blaues Hemd über der Hose und ein braunes! Uhrenarmband (ich hatte doch keines zum Wechseln!) und bin somit …  Nein: Diesen Gedanken möchte ich nicht weiter denken … Ein Anzug soll es sein — je nach Gelegenheit der Frack oder der Smoking. Das ist halt so. Würde denn auch Toga gehen? Toga??? Nein! Toga war bei den Römern. Toga war vorgestern. Das trägt man heute nicht mehr. Aber Frack und Smoking  …  Nachtrag zur Kleiderordnung: Die Strümpfe des Herrn sind so lang, dass niemalsnie Bein sichtbar wird. Das Bein endet am Knie! (Gelegentlich mal mit dem Hausarzt drüber sprechen.)

Sie haben den Job. Sie haben schöner gegessen.

Der Head Hunter Fenner erzählt aus dem wahren Leben. Da werden Bewerber um wichtige Posten in der Endrunde gern zu einem Essen geladen und wundern sich später, dass ein schlechter qualifizierter Mitbewerber das Rennen gemacht hat. Das muss man verstehen. Benehmen geht vor Qualifikation. Das Zauberwort: Soft Skills. Die sollte einer haben. (Merke: Sie haben den Job. Sie haben schöner gegessen.) Eine Dame möchte wissen, ob die Herren denn heute wirklich mit offenem Hemd erscheinen dürfen? Dürfen sie. The times are changing. Smart Casual. Klar. Ein „klassischer Abend“ ist — wie ein guter Anzug: Dreiteilig. Begrüßung. Essen. Ausklang. Alles hat seine Zeit: Die Begrüßung kann leicht eine Stunde dauern. Der Hausherr stellt jeden jedem vor. Das kann dauern. Menschen sollten sich kennen lernen. Man sagt nicht Leute. Leute ist ein Unwort. Wie Mahlzeit. (Zum ersten Mal verspüre ich in mir eine Zustimmungswelle aufbranden.)

Pünktlichkeit ist Teil der Relativitätstheorie.

Merke: Niemals komme nach Beginn des Essens und niemals gehe vor dessen Ende. Gut — das hätte ich gewusst. „Ein wunderbarer Abend war’s.“ Das soll später im imaginären Tagebuch der Gäste stehen. „Gute Gespräche. Nette Menschen. Gutes Essen.“ Und was schreibe ich? „Liebes Tagebuch: Ich hätte die schwarzen Lackschuhe anziehen sollen.“ Trotzdem: Kein Problem. Das Zauberwort: Contenance. Nichts taugt zu einer Szene. Höfliches Schmunzeln und Nichtbeachtung an passender Stelle wirken latent pädagogisch. (Die Kinder der 68-er können einem Leid tun. Für die hieß es immer: ‚Müssen wir heute wieder machen, was wir wollen?‘) Bitte Platz zu nehmen. Zwischenzeitlich wurden Rangfolgefragen bei der Begrüßung zur allgemeinen Zufriedenheit geklärt.  Dass sich nur ja niemand hinsetzt, bevor der Gastgeber sitzt. Die Gläser: Das größte für den Rotwein. (Der muss atmen.) Heute schon geduldet: Dass einer nur Roten oder Weißen trinkt oder gar keinen Alkohol. Das Wasser darf zu jeder Zeit getrunken werden — die Weingläser erst berühren, wenn die Aufforderung ergangen ist.

„Und was machen Sie denn so?“

Zweiter Nachtrag: Beim Stehempfang nur bedingt Sitzmobiliar zur Verfügung stellen. Nichts ist schlimmer als leere Stühle und Sessel. Das Essen — ach ja. Es ist hervorragend und wirft die eine oder andere Frage auf. Natürlich wissen wir: Gekreuztes Besteck heißt: Ich werde weiter essen. Parallellage: Ich habe fertig. Reicht dir jemand die Brotschüssel: Niemals nimm ein Stück herunter. Nimm die Schüssel und dann das Brot. Höflichkeit ist eine Form der Ehrerbietung. Das leuchtet natürlich ein. Vor dem Trinken immer!!! den Mund abtupfen. Das Glas soll rein bleiben. Servietten sind zum „Beschmutzen“ da. Die Abendgesellschaft ist längst ins lockere Parlieren übergegangen. „Und was machen Sie denn so?“

Die Fliege im Glas

Da: Eine Fliege im Weinglas. Die Wirklichkeit hat uns erreicht. Der Meister rät: Niemals eine Szene machen. Contenance. Entweder den Ober einfach um ein neues Glas bitten oder — wenn’s grad keiner sieht — unterhalb der Tischkante das Flugobjekt abfischen und sich nichts anmerken lassen.

Jeder Gang wird von der Dame des Hauses oder der tischältesten Dame „freigegeben“. Zwischendurch immer mal ein „Zum Wohle“. Dabei: Augenkontakt zur Mehrheit. „Guten Appetit“ wünscht man nicht. „Gesundheit“ auch nicht. Kartoffeln schneiden?  „Man tut es nicht.“ (Du bist, wie du isst.)

Und die Hände: „Bis zum Knöchel auf dem Tisch.“

Und die Ellbogen: „Niemals nie aufstützen.“ Und das Jackett? Beim Sitzen aufgeknöpft. Niemals nie im Stehen. Und Hemden mit kurzem Arm? „Ich bitte Sie.“ (Die Betonung macht’s.) Im Klartext: Herren immer lang und — notfalls — aufgekrempelt. Bei der Tischkonversation nie mit dem Besteck dirigieren. Des Meisters wichtigster Satz: „Gutes Benehmen ist immer Herzenssache.“ Und: „Kein Gehabe. Schlicht ist gut.“ Die Kunst, da zu sein. Und für den kleinen Gast — ganz nebenbei: „Das Messer muss immer in der Hand verschwinden.“ (Damit keine Missverständnisse aufkommen: Gemeint ist der Schaft.)

Nicht für das Leben — für die Zeitung lernen wir.

Und der Salat? Am besten nur mit der Gabel bearbeiten. Große Blätter werden notfalls gefaltet. Es geht aber auch mit Doppelwerkzeug. Die Fragen sind Legion. Der Meister spielt zur Vertiefung des Gelernten Filmszenen ein. „Da wird’s noch mal gezeigt.“ Fenner und das Fernsehen. Praktisch, dass man’s mal eben vorführen kann. Es geht auf 22 Uhr. Meine Notizen umfassen 30 A-5-Seiten. Nicht für das Leben, für die Zeitung lernen wir. Während der Abend zu Ende geht, denke ich unweigerlich an die Silberhochzeit, zu der ich eingeladen bin. Ich werde der Dame des Hauses vorab Blumen schicken und mitteilen, dass ich mich schrecklich auf den Abend freue. Ich werde schwarze Schuhe besorgen, ein schwarzes Uhrenarmband — und ich werde wohl meinem Herrenschneider mal wieder einen Besuch machen müssen. Fürs Erste bin ich gekniggt. Wer es übrigens genau wissen möchte: Am 15. September ist Wiederholung. Dann wird es wieder um Tischetikette gehen. Kurzweilig ist es allemal. Vielleicht schaue ich — gut gestylt — nochmal rein. Meine Mutter wäre dann stolz auf mich und würde nur sagen: „Junge, lass dir doch noch die Haare machen.“ Contenance, Mutter. Es wird.