Schreibkraft
Heiner Frost

Maria macht Theater

Nachfolge
Siebenundfünfzig Grundschulen gibt es im Kreis Kleve. Sie alle werden in nächster Zeit Besuch bekommen. Von der Polizei. Kein Grund zur Sorge. Nichts Ernstes. Oder eigentlich doch. Maria wird kommen. Maria ist die Einfraushow in Sachen Verkehrserziehung. Maria heißt Lenz. Im wirklichen Leben. In eben dem ist sie Polizistin. Polizeihauptkommissarin. Zusatzbezeichnung: Verkehrssicherheitsberaterin. Maria Lenz ist Nachfolgerin. Oder sollte man sagen: Sie hatte einen Vorgänger. Heinz-Gerd Fleuren. Wenn der im Dienst zu singen anfing, ging es weder um Gehaltserhöhung noch um Beförderung. Fleuren sang quasi amtshalber. Er sang mit den Kindern. Die Mission: Verkehrserziehung. Fleurens „Praktikant“: Der Polizeistoffhund Paul. Tiere sind fast immer unschlagbar. Als Fleuren in den Ruhestand ging, galt es, jemand für die Nachfolge zu finden. Fleuren ging nicht allein. Dienststoffhund Paul ging mit. Ende einer Dienstart.


Zielgruppentest

Maria Lenz interessierte sich für das Projekt Verkehrserziehung. Aber: Sie wollte was Neues. Nicht einfach ein altes Konzept übernehmen. Die Sache wurde genehmigt. Maria dachte sich was aus. Ein Stück. Titel: „Paula und der Glitterschatz“. Stück – das bedeutet: Theater. Bühne. Publikum. Wenn es um die Kunst geht, kann kaum etwas vernichtender sein, als die Diagnose: Gut gemeint. Maria legte sich ins Zeug. Nahm Unterricht in Sachen Puppenspiel. Es traten helfend auf: Judith Hoymann und Sandra Heinzel. Theaterpädagoginnen beim TIK Figurentheater im Emmericher Schlösschen Borghees. Theater an sich ist schon schwer genug. Wer noch dazu eine Botschaft hat, sollte bestens vorbereitet sein. Maria Lenz entwickelte ihr Stück. Das Ergebnis: Figuren- und Menschentheater. Zur Premiere reisten Kinder an. Der Zielgruppentest. Zuvor: Begrüßungen. Der Pressesprecher der Polizei. Er macht alles richtig. Begrüßt die Wichtigsten zuerst: Die Kinder. Alle applaudieren. Herr Jacobi – so heißt der Pressesprecher – begrüßt auch andere. Sein Chef ist da. Herr Lange. Polizeidirektor. Ehrfürchtiger Beifall der Zielgruppe. Herr Lange tritt vor. Zwei Blumensträuße sind zu vergeben. Sie sind für Judith Hoymann und Sandra Heinzel. Ein Dankeschön.

Happy birthday

„Heute feiern wir eine Premiere“, sagt der Polizeidirektor und erklärt der Zielgruppe, das sei so eine Art Geburtstag. Und zum Geburtstag gebe es ja schon mal Blumen. Herr Lange freut sich, dass alle gekommen sind. Auch das Fernsehen. Und das Radio. Und die Schreiber von der Zeitung. Dann geht es los. Das Licht erlischt. Alles Theater beginnt mit Dunkelheit. Dann Musik, die den Tonfall festlegt: Fröhlich. Es wird also nicht um Zeigefingertheater gehen. Dann tritt Maria auf. Als Mensch. Sie steht im Wald und übt Verkehrslenkung. Am nächsten Tag soll sie auf einer Kreuzung den Verkehr regeln. (Gute alte Zeit.) Da steht sie also in Uniform und Trillerpfeife und probt den Ernstfall. Dann entdeckt sie wie zufällig ihr Publikum. „Seid ihr schon lange hier?“ Die Zielgruppe bejaht. Der Kontakt ist hergestellt. Die Dinge können ihren Lauf nehmen.
Schnell steht fest: Maria macht ihre Sache gut. Nichts Verkrampftes. Nichts Gewolltes. Die Kulissen: Einfach. Schön. In den Zielgruppenköpfen setzen sie Fantasien frei. Es ist wie früher die Plastikplane bei der Augsburger Puppenkiste: Einmal drunter geblasen und es ist das Meer. Maria hat den Wald dabei und unterstützt mit Vogelzwitschern aus dem Lautsprecher.  Auch eine Straße ist zu erkennen. Maria erzählt von ihrer Freundin Paula. Die haben Erstaunliches erlebt. Vorhang. Ein Vorhang gibt es zwar nicht, aber das Licht wird abgeschaltet. Szenenwechsel. Maria macht alles. Am Handgelenk hat sie eine Fernbedienung mit ein paar Knöpfen. Licht und Geräusche lassen sich steuern. In Szene zwei lernt die Zielgruppe Paula kennen. Paula ist eine Jungeule. Im wirklichen Leben ist sie eine Fingerpuppe. Nein. Es ist längst andersherum: Im wirklichen Leben ist Paula eine Eule. Sie spricht mit Marias Zweitstimme. Paula hat noch einen Freund: Ulobe. Ein Winzteddy.

Wirklichkeit

Jetzt also ist Trialog möglich. Ohne dass die Zielgruppe es merkt, werden die Fäden ausgelegt. Ach ja: Paula hat noch einen Vater. Während Paula und Ulobe Puppen sind, pardon: Eule und Teddy, ist der Eulenvater wieder Mensch. Mensch Maria mit Eulenmaske.
Es ist erstaunlich wie alles funktioniert – wie sich das Stück entfaltet. Die Handlung: Paula will eine Freundin besuchen, der Papa hat keine Zeit. „Morgen“, sagt der Papa. „Dann fliegen wir zusammen hin.“ Paula will‘s heute schon. Kaum ist Papa Eule aus dem Haus, schwingt sich Eule Paula auf, um zum Waldrand zu fliegen und die Freundin zu besuchen. Ulobe nimmt sie mit. Es kommt, wie es kommen muss: Dunkelheit bricht herein. Paula verfliegt sich. Verletzt sich. Landet auf der Straße.
Dann taucht Maria wieder auf. Maria, die Polizistin. Nach 35 Minuten erreicht das Stück eine nutzbare Wirklichkeit. Paula auf der einen Seite der Straße. Ulobe auf der anderen. Dazwischen die Autos. Die Gefahren. Längst ist aus der Waldbühne mittels simpler Veränderungen eine Straße geworden. Die gilt es zu überqueren. Maria nimmt Kontakt zur Zielgruppe auf. „Wisst ihr denn, wie man richtig über die Straße geht?“ Aber Hallo. „Und wer möchte mir mal helfen, es der Paula zu erklären?“ Die Finger fliegen hoch. Auftritt: Ella. Zusammen mit Maria entwickelt sie die Grundregeln: Hinhören. Hinschauen. Ohren allein reichen nicht. Immer mit der Ruhe. Als die beiden die Straße überqueren, brandet Beifall auf. Jetzt soll es die Ella nochmal machen. Sie soll‘s der Paula erklären. Und tut es. Lernen ist Wiederholen. Das Erreichen der Wirklichkeit markiert das Ende des Stückes. Nicht nur die Zielgruppe ist begeistert. Auch Marias Chef. Wieder gibt es Blumen. Maria hat sie verdient. Tolles Stück. Tolle Schauspielerin. Jemand wie Maria könnte auch beim Theater vorsprechen.

Tournee

Apropos vorsprechen: Siebenundfünfzig  Grundschulen gibt es im Kreis Kleve. Maria wird überall auftauchen. Ungefragt, aber nicht unangemeldet. Mit anderen Worten: Niemand muss Maria anfordern. Es gibt einen Spielplan. Alle bekommen Bescheid. Alle bekommen Besuch. Kosten für die Schulen: Null. Die Sache geht aufs Haus. Das Haus ist die Kreispolizeibehörde.
Nach der Premiere sind Maria und Paula die Stars. Die Zielgruppe stellt Fragen. Die Zielgruppe möchte mit Maria sprechen. Und mit Paula. Und die Zielgruppe hat einen Wunsch. Einen ganz kleinen nur. Aber wichtig ist er und lautet: Einmal Marias Polizeimütze aufsetzen. Das lässt sich machen. Die Mütze wird herumgereicht.
„Und wann kommst du in die Schule?“, fragt die Zielgruppe: Bald. Und dann gibt‘s nicht nur Theater mit Maria. Es gibt anschließend auch die Übungen in der Straßenverkehrswirklichkeit. Ganz nach dem Motto: Es gibt ein Leben nach dem Theater.