Schreibkraft
Heiner Frost

Küche, Kirche, Krankenwagen

Paul Meurs hat sich herangepirscht: An die Menschen. An das Leben. An Gott. Vielleicht ist ‚heranpirschen‘ das falsche Wort – man denkt an Jagd und Wild. Wie aber beschreibt man den Weg, wenn einer Koch lernt, dann Rettungssanitäter wird, anschließend Erzieher lernt und am Ende Priester ist? Man könnte sagen: Es passt. Meurs ist seit Mitte August der neue katholische Anstaltsseelsorger der LVR Landesklinik in Bedburg-Hau.


Ortstermin im Büro. „Da muss noch ein bisschen Einrichtung her“, sagt Meurs – steht unten vor der Eingangstür und sucht nach dem passenden Schlüssel. Ein schönes Bild. Es erzählt vom Neu-Sein und davon, dass so wenig selbstverständlich ist im Leben. Meurs ist nicht der Typ Hochwürden. Er ist Kommunikator – keiner von denen, die in Ermangelung einer passenden Antwort mit dem Zeigefinger Richtung Himmel deuten und ein frommes Gesicht dazu machen. Sein Leben: Ein spannender Weg, der von der Küche zur Kirche führt – vom Koch zum Priester – vom leiblichen Wohl zum seelischen. Eins geht nicht ohne das andere. Einer wie Meurs weiß das. Er hat, nachdem er Kochlehre und die Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert hatte, lange als Erzieher mit Jugendlichen gearbeitet, die man „schwer erziehbar“ nannte. Meurs weiß, wie wichtig Anlaufstellen sind. Als ihm der Aachener Weihbischof August Peters dann den Vorschlag machte, Theologie zu studieren und Priester zu werden, nahm Meurs sich ein halbes Jahr Zeit für seine Entscheidung. Einen Vorschlag machen – das klingt fast nach „Gehn wir ins Kino oder in die Disco? Gehn wir ins Theater oder doch in die Oper?“ Küche, Kirche, Krankenwagen.
Meurs entschied sich für die Theologie und wurde 1994 zum Priester geweiht – ein Priester mit Vorleben. Ein Seiteneinsteiger. Einer, der Fragen stellt. Einer, dem es wichtig ist, Dinge nicht einfach hinzunehmen. Tradition bewahren bedeutet Veränderungen zulassen.
Er arbeitete in verschiedenen Pfarreien. Irgendwann dann die Anfrage, ob er sich vorstellen könne, als Anstaltsseelsorger in Süchteln zu arbeiten? Kinder- und Jugendpsychiatrie, Forensik, Suchtkranke. Meurs absolvierte eine weitere Ausbildung und trat 2009 seinen Dienst an. Dienst – wieder so ein Wort, das sich mit einem wie ihm kaum synchronisieren lässt. „Als Seelsorger“, sagt er, „kannst du dich nicht anketten lassen.“ Wer mit freien Seelen arbeitet, muss selber frei sein. Was für jeden Seelsorger wichtig ist – Vertrauen –, hat bei der Arbeit in einer Landesklinik noch mal eine ganz andere Qualität.
Meurs ist einer, dem sein Beruf wichtig ist und einer, der zum Lernen bereit ist. „Ich habe in meiner Zeit in Süchteln viel von den Menschen gelernt, für die  ich gearbeitet habe“, sagt er. Und er sagt auch: „Psychisch kranke Menschen sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Ich habe Menschen erlebt, die mehr Fähigkeiten hatten als die, die wir ‚normal‘ nennen.“
Kein Lippenbekenntnis. Wie schnell man aus der Welt rutschen kann, hat Meurs am eigenen Leibe erlebt, als er an einer Depression erkrankte. „Das habe ich jetzt im Griff“, sagt er, aber man spürt: Da hat einer eine Erfahrung gemacht, die auch nützlich war. Eine der Fragen, die sich Meurs stellt: „Wie kann ich mich in dieser Welt verändern?“ Eine andere: „Wie kann ich mit allen Konsequenzen glücklich sein?“
Es geht darum, Ängste aufzufangen, ihnen zu begegnen, sie zu wandeln. Meurs ist weder Psychologe noch Psychiater – er ist Seelsorger. Einer, der sich Sorgen macht? Vielleicht sollte man es so sagen: Meurs ist an den Sorgen der Menschen interessiert und daran, wie man ihnen, den Sorgen und den Menschen, begegnen kann. Mitleid? Das wäre falsch beschrieben. Wer mitleidet, wird schlimmstenfalls selber ohnmächtig.
Meurs ist einer von denen, dessen Telefonnummer man gern hätte, wenn es eng wird im Leben  –  und eigentlich auch schon vorher, denn, für Meurs geht um Kommunikation. „Genau das ist die Schnittstelle zum Leben der Menschen außerhalb der Klinik“, sagt er. Eines seiner Etappenziele: Wieder Leben in die verwaiste Anstaltskirche zu bringen, die sowohl ihm als auch den evangelischen Kollegen zu Verfügung steht. „Wir können uns die Kirche ja mal ansehen.“ Warum nicht. „Kaffee kann ich im neuen Büro noch nicht anbieten. Da können wir doch auch einen Spaziergang machen.“
Alsdann. Wo liegt denn eigentlich die Kirche? „Ich glaube, es geht da lang“, sagt Meurs. Am T-Shirt trägt er ein Namensschild am T-Shirt: Paul Meurs, katholischer Seelsorger. Der Weg zur Kirche ist – ganz wie im richtigen Leben – nicht immer eine Diretissima. Nach fünf Minuten „Rundgang“ spricht Meurs einen Mann an, der auch auf dem Gelände unterwegs ist. „Können Sie mir sagen, wo hier die Kirche ist?“ Ein bisschen sieht er aus, als wollte er sagen: „Willst du mich für dumm verkaufen? Wer ist denn hier der Seelsorgen. Guck mal, was auf deinem Schild steht.“ „Ich bin neu hier“, erklärt Meurs lächelnd und der Mann schickt ihn in die richtige Richtung. Gott suchen – eine echte Aufgabe.
Auch der Kirchenschlüssel muss erst gesucht werden. Aber: Was sind schon ein paar Schlüssel? Es geht um das Leben. Das bedeutet für Meurs: Der Mensch ist kein Stör- oder Notfall.  Meist geht es darum, im richtigen Augenblick eine Hand zu reichen oder die richtigen Fragen zu stellen, Dingen auf den Grund zu gehen. Die Kirche: An manchen Stellen ein bisschen ramponiert. Putz bröckelt von den Wänden. Noch wirkt das verbraucht. Meurs Ziel: Brauchbarkeit. Die Kirche ist ein Platz im Leben. Gut, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Kirche als Gebäude und der Kirche als Platz Gottes im Menschen.
„Seit ich hier bin, weiß ich auch etwas vom Trennungsschmerz“, sagt Meurs und spricht von Süchteln – seinem vorigen Arbeitsplatz. „Wir hatten da ein tolles Team.“ Warum dann der Wechsel nach Bedburg-Hau? „Das hat etwas mit Heimat zu tun und mit Familie.“ Meurs stammt aus Kranenburg. Dort leben seine Geschwister – die Familie. Meurs ist froh, „wieder da zu sein“. „Mit 61 denkst du über Heimat nach“, sagt er. Er freut sich auf seine neue Aufgabe, „aber das muss ja nicht heißen, dass es keinen Schmerz gibt beim Zurückschauen.“ Er sagt auch: „Es wird eine ganze Zeit dauern, bis man mich hier wahrnimmt.“
Irgendwann wird er die Wege kennen, die richtigen Schlüssel in die richtigen Schlösser stecken. Nicht nur für Türen braucht man den richtigen Schlüssel.
Es fällt nicht schwer, mit einem wie Meurs ins Gespräch zu kommen, weil es Spaß macht, mit ihm zu reden. Er bringt die richtige Mischung aus Senden und Empfangen an den Start. Er ist einer, den man sich mit offenen Armen vorstellen kann. Er ist einer, den die Kirche brauchen kann – einer, der seine Autorität nicht aus einem Amt saugt, sondern aus der Seele und man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass er der richtige Mann am richtigen Platz ist.