Schreibkraft
Heiner Frost

Krümelmonster

Es sei gleich gesagt: Der folgende Bericht könnte Spuren von Satire enthalten. Vor dem Klever Landgericht wird vieles verhandelt – immer wieder natürlich auch Kapitalverbrechen. Im folgenden Fall wird zu klären sein, ob es sich um einen Auftragsmord oder Notwehr gehandelt hat …

Die Sache begann vergleichsweise harmlos: Krümel auf dem Tisch. Das soll‘s ja geben. Aber die Krümel lagen nicht auf einem Küchentisch (das hätte niemanden gewundert) – es war der Tisch der Bibliothek des Klever Landgerichts. Erste Ermittlungen wurden eingeleitet. Ergebnis: Kein Frühstück bei Justizia, sondern Späne – Holzspäne. Es rieselte von der Decke. Die Suche nach dem Täter/Verursacher begann und endete mit der Dingfestmachung des „Krümelmonsters“: Anobicum punctatum – der gemeine Nagekäfer aus der Familie der Nagekäfer, Ptinidae. Der Volksmund spricht vom Holzwurm. Somit stand fest, dass es sich um bandenmäßige und vorsätzliche Sachbeschädigung fremden Eigentums handelte.
(Den Grundtatbestand der Sachbeschädigung regelt in Deutschland § 303 StGB, der wie folgt lautet: (1) Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. … Die Sachbeschädigung ist ein Privatklagedelikt.)
Es galt zu handeln. Schritt 1: Das Landgericht verständigte den Eigentümer der Immobilie Burg. Alexander Lembke, Pressesprecher beim Landgericht: „Das Gebäude gehört dem BLB.“ (Bau- und Liegenschaftsbetrieb des Landes Nordrhein-Westfalen.) Der vergab einen Auftrag an eine Schreinerei, die ihrerseits ein Spezialunternehmen beauftragte. Anders als beim normalen Strafrahmen, den das Delikt der Sachbeschädigung vorsieht, wurde vom Besitzer der Immobilie nun ein Auftragsmord veranlasst. Nicht geklärt ist bislang die Frage, ob es sich hierbei um Notwehr oder gar einen Notwehrexzess handelt.
Paragraph 33, Strafgesetzbuch: Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.
Die beauftragte Firma nahm sich des Problems quasi chemiefrei an, nachdem zuvor die Bibliothek buchfrei gemacht wurde. Alexander Lembke: „Dann wurde der Raum aufgeheizt.“ Nicht, dass jemand mal eben die Thermostate der Raumheizung bis zum Anschlag aufgedreht hätte – das hätte wenig geholfen. Lembke: „Die Raumtemperatur wurde auf 70 Grad erhöht.“ Ziel der Maßnahme: Die Kerntemperatur in den Deckenquerbalken auf 55 Grad zu erhöhen. Lembke: „Wenn die Kerntemperatur sechs Stunden lang bei 55 Grad liegt, hat der Holzwurm keine Überlebenschance.“ Das klingt einfach – ist es aber nicht. Philipp Sauerwein, Justizwachtmeister: „Der Raum musste komplett abgedichtet werden. Die Balken wurden mit Messfühlern versehen und auf dem Boden wurde eine Dampfsperrfolie ausgelegt.“ Aufgeheizt wurde der Raum durch ein spezielles Aggregat. Alexander Lembke: „Ein Mitarbeiter der Firma war quasi permanent vor Ort, um in regelmäßigen Intervallen zum einen die Temperatur und zum anderen die Brandsicherheit zu überprüfen. Die Heizleitungen wurden durch ein Fenster in der Bibliothek in den Raum geleitet. (Beweisfotos liegen vor.)
Rund eine Woche nahm das Aufheizen des Raumes in Anspruch. Schließlich hatten alle Querbalken die erforderliche Kerntemperatur von 55 Grad erreicht, die dann über sechs Stunden gehalten wurde. Ergebnis: Das Biologische Aus für Anobicum Punctatum war erreicht. Noch ist unklar, ob es Überlebende Verwandte gibt, die Klage einreichen könnten.
Beim Landgericht sieht man die Sache entspannt. Alexander Lembke: „Demnächst könnten die Bücher wieder eingeräumt werden, aber zunächst einmal soll der Raum einen neuen Anstrich bekommen.“ Zu hoffen bleibt, dass der große Tisch demnächst dauerhaft krümelfrei bleibt. Kosten der Maßnahme: Unbekannt. Alexander Lembke: „Das müsste Sie dann beim BLB erfragen.“ P.S. Eine Trauerfeier für die Opfer der Hitzeschlacht ist nicht vorgesehen. Noch hat die Staatsanwaltschaft sich nicht geäußert. Klagen wurden nicht eingereicht. Eile ist nicht geboten, denn Mord verjährt nicht.