Schreibkraft
Heiner Frost

Kiste Bier und Keimkartoffeln

Wasserdampf und Klopapier

Geschichte ist ein nachwachsender Rohstoff. Geschichte entsteht nicht durch Erleben – sie ist das Ergebnis von Betrachtung, Beschreibung. Erleben ohne Erinnerung ist wie kochendes Wasser: Dampf entsteht, steigt auf und verschwindet. Geschichte geht nicht ohne Beobachtung. Menschen gehen, andere kommen. Es gibt Geschichten, und es gibt Geschichte und längst nicht immer gehen die einen in der anderen auf. Gute Geschichten dürfen erzählt werden. Immer wieder. Diese zum Beispiel: Sie spielt im Jahr im Jahr 1964. Am 1.4. trat ein damals 14-jähriger Bursche seine Lehre an: Beim Amt Griethausen in Kellen. Der Junge erhielt vom Chef auch gleich seinen ersten Auftrag: Ermittlung des Bedarfs an Toilettenpapier im gesamten Amt. Am ersten Tag im neuen Job stellst du keine Fragen. Du bekommst einen Auftrag. Du führst in aus. Der junge Mann zog also durch die Verwaltung und fragte in jeder Amtsstube nach dem Verbrauch an Toilettenpapier. „Dann kam ich zu einem Mitarbeiter, der mir sagte: ‚Geh mal zu deinem Chef und sag ihm, dass wir nichts brauchen. Wir haben noch genügend Toilettenpapier – Gebrauchtes.‘“ Zeit für die Rückspultaste. Alles auf Anfang. Erster Vierter? Haltstopp – da war doch was. Vier bei den Monaten – das steht doch für April. Dem Lehrjungen dämmerte es, und noch heute erzählt er die Geschichte. So was kommt von so was her. Mittlerweile sind ein paar Jahre vergangen – aus Geschichten ist Geschichte geworden, aus dem Lehrjungen von einst ist der Pressesprecher des Kreises Kleve, und demnächst wird Eduard Großkämper sein Büro für immer verlassen.

Karneval und Viehzählung

Wer als Journalist an den Kreis Kleve denkt, kann das nicht ohne den Namen Eduard Großkämper tun. Wenn „Eddi“ Ende Juli in den Ruhestand geht, geht ein Stück Geschichte. Pressesprecher werden in der Öffentlichkeit nicht unbedingt wahrgenommen, weil ihre Arbeit an der Schaltstelle zwischen Erleben und Geschichte stattfindet. Pressesprecher sind oft genug ein Teil des literarischen Schattenkabinetts von Firmen, Behörden, Vereinen. Pressesprecher ist kein Lehrberuf, aber einer, in dem man viel lernt – aus Erfahrungen. Zurück zum Bürschchen Eddi. Mit dem Toilettenpapierbefehl lernte der Junge – so ganz nebenbei, dass auch über Vorgeschriebenes von Vorgesetzten nachgedacht werden sollte. Eddi verlebte eine schöne Zeit im Amt Griethausen in Kellen, zu dem unteren anderem Salmorth gehört – eine der reichsten Gemeinden im Nordrhein-Westfalen von damals. Das lag daran, dass eben dort die Ölwerke Spyck beheimatet waren und das Steuersäckel gut anfüllten. Eddi seinerseits führte Viehzählungen durch und war mit dem Fahrrad unterwegs zu den Bauernschaften. „Wenn du es einmal an den Hunden vorbei geschafft hattest, endete das Ganze meist in der Wohnstube.“ Dort gab es dann auch schon mal üppig belegte Stullen, „und das war damals noch etwas Besonderes“. Der Mann, der für das Amt Griethausen die Viecher zählte, wurde in Bedburg-Hau geboren. Am 11. 11. 1948. Karnevalsprinz ist er trotz des geradezu exponierten Datums nie geworden. Dabei hilft, so hört man, die Prinzenrolle durchaus weiter. Eddis Lehre endete am 30. März 1966. Damals – manchmal kündigt sich Geschichte an – sprach man bereits über die Kommunalreform. Für die vier Lehrlinge beim Amt Griethausen hieß das: Nachdenken, wie’s weitergeht. „Zwei gingen zur Klever Stadtverwaltung, zwei zum (Alt)Kreis Kleve. Zwei Jahre später kam die Kommunalreform. Das Amt Griethausen hörte auf zu existieren. Aber Eddi hatte einen neuen Job beim Kreis. Sein erster kreisdienstlicher Arbeitstag: Der 1.4. 1966.  Diesmal ging es scherzlos von statten.  Die neue Verwendung: Kreisangestellter beim Landkreis Kleve, Einsatz im Amt 30, Sachgebiet Pass- und Ausländerwesen. Es begann: Der unaufhaltsame Aufstieg des Beschäftigten Eduard G. aus Bedburg-Hau.

Kiste Bier und Keimkartoffeln

Dann kam die Sache mit dem Bierkasten. Man schrieb das Jahr 1968. Eduard G. radelte zur Arbeit. Damals war das Kreisbauamt in einer Baracke untergebracht, die ungefähr dort stand, wo heute der neue Eingang zur Kreisverwaltung zu finden ist. An einem Morgen im Frühjahr des Jahres 1968 kam Eduard G. am Morgen mit dem Rad zur Arbeit und sah, wo einst die Baracke gestanden hatte zweierlei: Erstens rauchende Trümmer und zweitens inmitten der Trümmer die Reste eines Schrankes und gleich daneben eine Kiste Bier – voll mit leeren Flaschen. Der staunende Zuhörer begreift: Es waren andere Zeiten. „Alle Bauakten waren vernichtet“, erinnert sich Eduard G., aber für den Kasten und seinen Inhalts gab’s noch Pfand.“
Und dann wäre da noch die Sache mit den Kartoffeln:  Da, wo heute rechts neben dem Gesundheitsamt Autos parken, stand einst das Sozialamt. „Drinnen gab es einen riesigen alten Bollerofen“, erzählt Eddi. Und da gab es einen Amtsleiter, der oben auf dem Ofen Kartoffeln zum Keimen ablegte. „Es war da so schön warm.“ Ein bisschen denkt man zwangsläufig an die Bierseligkeit beim königlich bayerischen Amtsgericht. Während Bauamtsbaracken abbrannten und einen pfandtauglichen Bierkasten hinterließen, während auf dem Sozialamtsbollerofen Keimkartoffeln Fortschritte machten, stieg auch Eduard G. weiter auf. Er legte die erste Prüfung für Angestellte im kommunalen Verwaltungsdienst ab (1986). Die zweite Prüfung folgte 1971, und zwischendurch wechselte Eduard G. vom Pass- zum Schulwesen, wo er zu den Geburtshelfern einer Institution zählte, die unter dem Namen Kreismusikschule bekannt ist. Eduard G. wurde in den Personalrat gewählt und als Vorsitzender freigestellt.

Abgang mit Courage

Irgendwann, es war im Jahr 1992 wurde Eduard G. mit der Leitung der „Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit“ beim Kreis Kleve betraut und beerbte Johannes Look, der damals Richtung Moyland (da war doch mal was – richtig: Ein Museum) wechselte. In den 90-er Jahren war Pressearbeit ein weitgehend unbestelltes Feld. Hin und wieder, vor allem in Wahlzeiten, kam die eine oder andere Anfrage. So ändern sich die Zeiten. Wenn Eddi Ende Juli seinen Kreispressesprecherplatz endgültig räumt, blickt er in Sachen Pressesprecheraufgaben auf eine gewaltige Entwicklung zurück. Drei Oberkreisdirektoren hat er kommen und gehen sehen, zwei Landräte erlebt. Längst gehört es zum Pressesprecherhandwerk, erste Anlaufstelle zu sein und auf alle Fragen in kürzester Zeit Antworten parat zu haben. Eddi hat Gescidchten erlebt, aber eben auch Geschichte: Kommunale Neuordnung, die Neugliederung des Kreises, zwei Jahrhunderthochwasser, die Einweihung des Flughafens Niederrhein. Zu Eddis letzten Großeinsätzen wird das Courage 2013 gehören. Und dann? Dann kann Eduard G., verheiratet, eine Tochter, im Zweitleben Fußballtrainer, morgens schon mal etwas länger liegen bleiben. In Sachen „Schnüss van de Kreis“ heißt es dann: Aus die Maus. Apropos Fußballtrainer. Eduard G. kam zum Pressesprecher nicht wie die Jungfrau zum Kinde. Für seinen damaligen Chef, Rudolf Kersting, war es allerdings logisch, dass einer wie der Eddi sich um die Pressearbeit kümmert: „Als Trainer kennst du dich doch aus. Da hast du doch bestimmt öfter mit der Presse zu  tun und schreibst auch schon mal einen Spielbericht. Also mach das mal.“ So geht Karriere. Wie‘s nach dem letzten Arbeitstag aussieht? Man kann sich das nur vorstellen, und der Niederrheiner Eduard G. sagt: „Ich guck da jetzt gegen an.“ Das ist Wortakrobatik niederrheinischer Prägung und hüsch‘schen Ausmaßes. „Ich guck da jetzt gegen an“, kann himmelhochjauchzend und zutodebetrübt bedeuten. Alles ist möglich. Wie schnell is nix passiert. Tschüss Eddi. Nachsatz: Geschichte ist ein nachwachsender Rohstoff. Sie entsteht durch Beobachtung.

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