Schreibkraft
Heiner Frost

Ist doch alles erste Sahne

Eigentlich

Alfred Mersch könnte die Beine hoch legen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, denn eigentlich ist er  im Ruhestand. Eigentlich …

Geldern an einem Novembermorgen. Alfred Mersch und Gregor Janssen machen sich fertig für die große Tour. Den Vormittag über werden sie damit beschäftigt sein, einzusammeln, was vom Vortag übrig blieb: Tafelfreuden. Mersch und Janssen sind nur zwei von dreißig Mitstreitern der Gelderner Tafel, die von Mersch gegründet wurde und deren Vorsitzender er ist. Kein Schwätzer — einer, der anpackt. Anders würde es auch nicht gehen.

Warum wegwerfen?

Die ‚Ritter von der Tafelrunde‘ sammeln Lebensmittel ein, aber sie bezahlen nicht dafür. Wer jetzt an Diebstahl denkt, weiß nichts von Verschwendung. Täglich werden Lebensmittel vernichtet. Diagnose: Haltbarkeitsdatum abgelaufen. Aber: Was laut Datum ’nicht mehr geht‘ ist noch lange nicht ungenießbar. Am Anfang der Gelderner Tafel standen Gespräche — viele Gespräche. Mersch wurde vorstellig: In Konzernzentralen und bei Filialen vor Ort: Aldi, Rewe, Eurospar …

Immer wieder stellte er dieselbe Frage: Warum wegwerfen? Bei den meisten stieß die ‚Tafelidee‘ auf Gegenliebe. Nur wenige kamen mit Sprüchen wie: „Was wir verschenken, können wir nicht verkaufen.“ Weiter denken? Fehlanzeige! Was wir vernichten, können wir nicht verschenken. Wenn Profit zur einzigen Maxime wird, läuft die Welt aus dem Ruder. Die gute Nachricht: Es fanden sich genug Menschen guten Willens, und so fahren Mersch und seine Tafelritter jetzt viermal pro Woche durch den Altkreis Geldern und sammeln: Brot, Obst, Gemüse, Aufschnitt, Tiefgefrorenes und manchmal auch Blumen. Blumen? Blumen! Wer würde sich nicht über Blumen freuen. Schließlich gibt es auch Menschen, die sich nicht nur das tägliche Brot nicht leisten können. Wo steht denn geschrieben, dass, wer nichts zu Essen hat, auch keine Blumen haben sollte? Wer mit Mersch auf die Tour geht, merkt schnell, dass der Mann Überzeugungstäter ist. Durch und durch.

Es geht auch anders

Mersch fährt nicht einfach vor, packt ein und zieht wieder ab. Es bleibt immer auch Zeit für ein Gespräch am Rande. Schließlich ist nichts selbstverständlich. Die Absender der guten Gaben könnten ihre Lebensmittel schließlich auch auf den Müll schütten. Das steht schließlich nicht unter Strafe. (Was wir verschenken, können wir nicht verkaufen und was wir zerstören, brauchen wir nicht zu verschenken)

Aber: Es geht eben auch anders: Wo Mersch und Janssen auch hinkommen — überall stehen vorsortierte Sachen. Trotzdem: Alles wird nochmal kontrolliert. Wenn irgendwo ein Kistchen Mandarinen steht, stellt sich schon mal heraus, dass eine oder zwei miese Früchtchen dabei sind, aber alles andere ist ‚erste Sahne‘. Gurken, Tomaten, Salat — alles bestens.

Mit Brot die Straße pflastern

Viele der Geber wollen nicht genannt werden. Was da läuft, ist ein Stück Menschlichkeit im Stillen; etwas, das abseits öffentlicher Anerkennung passiert und doch von unschätzbarem Wert für die ist, denen es schlecht geht und denen es oft genug am Nötigsten fehlt. „Mit Brot könnten wir an manchen Tagen die Straße pflastern“, erklärt Mersch. Muss man Brot wegwerfen? „Früher haben die Bauern das Brot bekommen. Heute haben die Schweine einen zu empfindlichen Magen.“ Kommentar überflüssig. Die Empfänger der Tafel-Waren haben jedenfalls Menschenmägen und freuen sich. Was morgens eingesammelt wurde, wird den Abend nicht auf der Müllhalde erleben, sondern in den Regalen des Tafelladens. Es werden rund 300 Menschen kommen, die sich freuen. Für sie ist das ein Stück Überlebenshilfe.

… was sonst auf die Kippe geht

Ein Verein wie die Gelderner Tafel muss allerdings noch anderes bewältigen als das Abholen der Lebensmittel. „Vor dem Start brauchten wir ein Gebäude. Das musste gemietet werden. Wir brauchten Fahrzeuge für die Touren und noch einiges mehr“, beschreibt Mersch die Gründerphase. Für alles haben sich Sponsoren und Spender gefunden. Die Autos sind gespendet: „Daimler Chrysler unterstützt die Tafel“, steht auf dem Wagen, mit dem Mersch und Janssen heute unterwegs sind. Der ADAC hilft, wenn unterwegs mal was schief gehen sollte. Inspektionen und Reifen gibt’s gratis. Ist Gott doch ein guter Mann? Zumindest sieht es zwischendurch so aus.  Mehr als 30 Stunden pro Woche ist Mersch für die Tafel unterwegs. Und was gibt’s dafür? Nix. Einen Job wie den macht man nicht für Geld. Den macht man aus Überzeugung. Die Überzeugung der Tafelritter muss schon gewaltig sein. Nach der ersten Hälfte der Tour fahren Mersch und Janssen erst mal zum Ausladen in die Jahnstraße. Der Tafelladen — morgens noch ein leerer Raum mit leeren Regalen — füllt sich. Zwar sortieren Mersch und Kollegen schon beim Abholen die gesamte Ware, aber jetzt, bevor alles in die Regale wandert, wird nochmal kontrolliert. Was den Laden verlässt, ist sozusagen erste Ware. Hier wird Wohlstandsmüll verladen — hier wird verteilt, was sonst auf die Kippe gehen würde. Kaum zu glauben, aber wahr. Für Mersch ist aus der Ruhestandsbeschäftigung längst etwas geworden, das Hobby zu nennen wohl eine sträfliche Untertreibung wäre. Wenn die zweite Hälfte der Tour gefahren ist, wird der Wagen gereinigt. Dann werden schon die ersten Menschen vor dem Laden stehen. Abends wird von allen den guten Gaben nichts mehr da sein.

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