Schreibkraft
Heiner Frost

Gott gab uns Geschichte – aufschreiben müssen wir sie selber

Geschichte ist flüchtig — sie ist eine empfindliche Pflanze. Sie bestraft Ignoranz mit Verlust. Egon Schönberner ist einer, der sich der Bedeutung der Geschichte  bewusst ist und sie nach Gustav Mahlers Maxime behandelt: „Tradition ist die Bewahrung des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“ Egon Schönberner wacht über einen Schatz, der schon jetzt nicht in Gold aufzuwiegen ist:  Er hütet Vergangenheit — in Bildern und Büchern.

Mit einem Buch fing alles an. Das Buch hieß ‚Oem den Burenhof‘ (Land en Lüj) und war den Gedichten seines Schwiegervaters Karl Gahlings gewidmet. Wenn Schönberner heute seine gesammelten Werke auf dem Tisch stapelt, ist der 78-jährige ehemalige Studiendirektor am Berufskolleg schnell dahinter verschwunden. Einer wie er ist nicht einfach Sammler — einer wie er arbeitet mit der Geschichte, in der Geschichte, aus der Geschichte. Da wäre beispielsweise das zweibändige Kompendium mit dem eher trockenen Titel ‚Wortschatz des unteren Niederrheins‘. 15 Jahre Arbeit hat das Nachschlagewerk beansprucht. Was, bitte schön, bedeutet denn ‚Krällekeskütt‘? Kein Problem: Fischrogen lautet die Antwort. Da hat also einer die Bedeutung der ‚besseren Hälfte‘ verstanden: Wort-Schatz. Das Buch ist (leider!!!) nicht mehr erhältlich. Bei vielen anderen Veröffentlichungen Schönberners ist es ähnlich. ‚Kinderspiele am Niederrhein‘ — auch vergriffen. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen und gibt somit Anlass zur Trauer.  So viel zur schlechten Nachricht — jetzt zur uten: Egon Schönberner hat nicht nur Bücher herausgegeben und verfasst, er ist Leiter und Gründer eines Schatzes mit dem Namen  ‚Fotoarchiv für Brauchtum, Geschichte und Kultur in den Niederrheinlanden‘.

Das kam so: „Es gab früher einen Erntebrauch“, erinnert sich Schönberner: „Bei der Getreideernte wurde die letzte Fuhre mit einem grünen Zweig geschmückt. Davon hatte ich gehört. Aber es gab keinen Beleg, bis irgendwann ein Foto auftauchte.“ Schönberner erfuhr davon und fertigte eine Reproduktion an. Damals — man schrieb die frühen 80-er Jahre — war die digitale Welt noch ein Stück entfernt. Reproduktion bedeutete: Fotoapparat nehmen — abfotografieren. Und so geschah es. Der Rest ist Legende. Natürlich blieb es nicht bei einem Foto. Schönberner begann, sich vermehrt für Bilddokumente zum Thema  Geschichte, Brauchtum und Kultur zu interessieren. Gerade noch früh genug erkannte er: „Das könnte eine größere Sache werden“, und  dachte über ein Archivsystem nach. Eine Karteikarte wurde entwickelt. Anhand eines Zahlencodes sollte jedes Bild zuzuordnen sein. Forschung hat immer etwas mit Ordnung zu tun. Computer gab es zwar schon, „aber was heute auf eine Diskette passt, das war damals die gesamte Festplatte“, erinnert sich Schönberner.

Er sprach Leute an. Das Ziel: „Zeigt mir eure Fotos.“  Es kam einiges zusammen, denn heute, gut 20 Jahre später, umfasst das Archiv längst über 20.000 Bilder. Die Verwaltung des Schatzes ist Schönberner nicht allein vorbehalten. Ingrid Hüsges ist längst so etwas wie die Chefassistentin geworden. Sie lernte Schönberner 1979 beim Mundartstammtisch kennen. Ingrid Hüsges machte ‚den Fehler ihres Lebens‘, als sie Schönberner verriet, sie könne Maschineschreiben. Der Archivar bat sie um Mithilfe bei einer seiner ersten Veröffentlichung: Kinderspiele. Ein Kinderspiel allerdings war das nicht, denn das Manuskript entstand an einer Schreibmaschine. Regel Nummer Eins: Taucht ein Fehler auf, wird die ganze Seite neu geschrieben. Natürlich beging Ingrid Hüsges keineswegs den Fehler ihres Lebens. Und es blieb auch längst nicht nur beim Abtippen der Schönberer’schen Manuskripte. Ingrid Hüsges ist längst ein unverzichtbarer Bestandteil des Fotoarchivs. Egon Schönberner bekommt Anrufe von Menschen, die alte Fotos haben. Er holt die Bilder persönlich ab. Heutzutage ist zur Reproduktion nur noch ein Scanner erforderlich. „Da werden dann schon mal Nachtschichten eingelegt, wenn es darum geht, ein Album zu archivieren“, beschreibt Schönberner die Arbeit, denn: Jeder bekommt seine Bilder zurück: Unversehrt. Das ist die oberste Devise. Nichts wird aus den Alben gerissen. (Vorsicht ist nicht nur die Mutter der Porzellankiste.) Natürlich sind nicht alle Bilder interessant. Es muss sich schon um Themen aus den Bereichen Brauchtum und Kultur handeln. Nach dem Einscannen wird jedes Bild katalogisiert. Wo kommt es her? Wer ist der Fotograf? Aber das allein reicht nicht aus. Schönberner will die Geschichten hinter den Bildern. Und so rückt Ingrid Hüsges zu Gesprächsterminen aus — im Gepäck die vier W: Wann? Was? Wer? Wo? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, ist die Arbeit vollständig, denn im Archiv liegen nicht nur ‚lautlose‘ Bilder. Wenn irgend möglich, hat jedes Bild eine Legende. Akribie tut Not.

Wer bei Schönberner zu einem Thema nachfragt, darf sicher sein, dass sich Material findet. Angefangen bei A wie Ausbildung über B wie Brotsegen, tut sich ein riesiges Bildarchiv auf, das mit Werkzeug, Wörterbuch, Wyler und Xanten endet. Alle diese Bilder sind ein Stück Geschichtsschreibung und der Gedanke daran, wieviel täglich auf den Müll wandert, ist beängstigend. Das Problem beschreibt Schönberner wie folgt: „Fragt man bei älteren Menschen nach, sagen die oft: Warte, bis ich tot bin. Fragt man nach, wenn sie tot sind, hat das immer den Beigeschmack von Leichenfledderei. Kurze Zeit darauf aber ist es oft zu spät, weil nicht selten ein gesamter Hausrat irgendwo auf der Kippe endet.“ Tragisch genug.

Wie sieht es mit Schönberners Schätzen aus? „Ich suche natürlich händeringend nach jemandem, der meine Arbeit einmal weiterführen möchte.“ Aber der Wunsch allein reicht nicht aus. „Ich brauche jemanden, der sich auskennt, der Zeit hat, der auch schreiben kann und mit den Menschen irgendwie klarkommt“, beschreibt Schönberner nur einige der Facetten aus dem Pflichtenheft für einen potentiellen Nachfolger. Eines ist sicher: Es wäre ein nie wieder gut zu machender Verlust, wenn Schönberners Archiv in die falschen Hände geriete, denn was hier schlummert, kann Generationen von geschichtsinteressierten Laien und Profis, Doktoranden und Brauchtumsforscher nicht nur kurzfristig glücklich machen. Ach ja — ein Wahlspruch von Egon Schönberner lautet: „Gott geft ow et Gesecht. Lache mo’j eiges.“ Gott gab uns auch die Geschichte. Aufschreiben müssen wir sie selber.

Schönberner