Schreibkraft
Heiner Frost

Gallaxie Wallonie oder: Napoleon kommt aus Georgia

Beam me up

Kurz hinter Aachen reißt die Satellitenverbindung, und der GPS-Bildschirm zeigt unvermessene Landschaft. Die Autobahn gehört dem König. Wir betreten die Galaxie Wallonie, Sternzeichen Belgien. „Beam me up, Scotty.“ Immerhin: Belgien bietet Wahlverwandtschaften. Flaggenfarbentechnisch herrscht Auswahlgleichheit. Nur die Reihung ist anders. Was bei uns von oben nach unten schwarzrotgoldig daherkommt, geht hier von links nach rechts. Reihenfolge: Schwarz Gold. Rot. Galaxie Wallonie. So fern und doch so nah. Tourismus-Profis setzen auf Kurzurlauber und Individualtouristen mit Tendenz zu Kultur und Sport. Keine Ausnahme ohne Regeln. En parle Francais. Man spricht Französisch. Und: Man lebt auch fast schon so. In Nachbarschaft der großen Schwester France ist Essen hier Teil der Kultur und nicht Überlebensstrategie. Hier wissen sie, wie Kochen geht. Savoir vivre. Wissen, wie man lebt.

Es hügelt

Die Wallonie ist wahrhaft mehr als ein Durchfahrerterritorium abseits der königlichen Autobahn, und Kultur findet hier längst nicht nur auf dem Teller statt. Wichtiger Zusatz für die Radler: Es hügelt. Das machen die Ardennen. Die Ardennen machen schön. Die Landschaft dankt. Ebenfalls zu nennen: Die Lochdichte. Es kann gegolft werden. Platz gibt es reichlich. Plätze auch. Und schließlich, wer hätte das gedacht: Auch Kajak geht, weil Ardennen. Gedopt wird mit Weiß oder Rot. Passend zum Essen. Auch Politik ist zu nennen. Bruxelles. Einstens war der Korse hier und ließ die Hand in der Uniform verschwinden. Heute trifft man bisweilen hohe Politik im Frühstückssaal eines Fünf-Sterne-Hotels. Der Korse kam bis Waterloo, und wurde ebenda zum Verlierer. Ob Waterloos Nähe sich auf die Politik in Brüssel auswirkt? Das hängt davon ab, wen du fragst. Waterloo: Einmal im Jahr marschieren Truppen auf und metzeln Geschichte aufs längst wieder grün liegende Schlachtfeld von einst. Der Krieg findet sonntags statt. Da haben alle Zeit. Aber davon später mehr.

Die Ruine spricht

Reise zur Kultur. Zum Beispiel Villers la Ville. Eine Ruine nur. Aber was für eine. Einst gehörte die Abtei, die im 12. Jahrhundert gegründet wurde und ihre Blütezeit im 13. Jahrhundert unter dem Abt Wilhelm von Brüssel erlebte, zu den größten und bedeutendsten des Abendlandes. Davon erzählen Mauern, die imposant und malerisch Zeugnis ablegen. Längst ist wieder Landschaft zwischen die Mauern gesunken.  In der einstigen Kirche deckt Gras den Boden und Fensterblicke geben Grün frei. Die Ruine spricht. Zum Beispiel Folon. Wer ist Folon? Was ist Folon? Folon ist ein Phänomen. Der Maler hat es in die Welt geschafft. Er ist ein Genie des Plakativen. Folon hat Filmplakate für Woody Allen gemalt. The Purple Rose of Cairo. Folon ist in Brüssel geboren. Folon lebt nicht mehr. Ganz in der Nähe von Brüssel haben sie ihm ein Museum gebaut. Besonders in jeder Hinsicht. Eine Mischung aus Geniestreich und gut gemeint. Umzingelt von einer Traumlandschaft für Prospektfotografen. Folon und das Museum sind nichts für den Massentourist. Aber das passt in wallonisische Schema, für das es kein Schema zu geben scheint. Sympatisch sind sie hier. Und ein bisschen anders. Vor allem, wenn es in den Krieg geht.

Napoleon kommt aus Georgia

Es ist der Vorabend der großen Schlacht. Die Heerscharen sind aufmarschiert. Sie kommen aus aller Herren Länder. Tschechei, England, Italien, Frankreich, Holland. Sachsen. Waterloo. Einmal jährlich stellen sie die Schlacht nach. Waterloo ist hier manchen die Mutter aller Schlachten. Das Wetter ist historisch. Regen fällt schräg aus dem wallonischen Himmel. Seinerzeit haben die Soldaten bis zu den Knien im Schlamm gestanden. Die Wissenden berichten von Details, als seien sie selber dabei gewesen.

Sieg im Souvenierkrieg

Draußen in der Stadt (Zentrum von Denken und Handeln sind ja Feldlager und Schlachtfeld) — draußen in der Stadt also reitet ein Herold mit Trompete im Anschlag über die viel befahrene Innenstadt am Wellington Museum vorbei. History meets Alltag. Drinnen im Museum: Stationen eines Krieges. Napoleon hat die Schlacht verloren, aber den Souvenierkrieg gewonnen. Es gibt ihn in allen erdenklichen Materialien. Klein und bronzeglänzend oder hölzern. Museumsbesucher erhalten ein blaues Etwas, das man sich ans Ohr hält. „In Raum vier sehen Sie …“ Morgen geht es wirklich in die Schlacht. Das hier ist die Vorbereitung. Draußen in der Stadt. Von Wellington spricht kaum jemand. Im französischen Zeltlager sind hunderte von Kameraträger angerückt, um Geschichte nachträglich zu digitalisieren. Vor einem Zelt hockt Napoleon und lässt sich fotografieren. Handys im Anschlag beweisen, dass sie auch zur Kamera taugen. Ihre digitalen Schwestern geben das charakteristische Geräusch des wegklappenden Spiegels frei. Alle wollen Napoleon. Mancher reicht ein Papier und lässt es vom Korsen unterschreiben. Wer einen Presseausweis sein eigen nennt, kann sich zum Gespräch anmelden. Die Offiziere im Umfeld der Majestät sprechen Deutsch. Oder Tschechisch. Oder Französisch. „Napoleon’s Headquarters International.“ Das Gerücht sickert durch: Napoleon ist kein Franzose. Er kommt aus den Staaten. Nun denn: „Napoleon kommt aus Georgia“, sagt einer. Schreiben wir die Geschichte neu.

„Sie können jetzt zum Interview“, meldet das Protokollwesen. „Vergessen Sie nicht: Seine Majestät spricht Englisch.“ Erster Eindruck: Der Mann sieht irgendwie echt aus. Das Lächeln ist professionell. Was morgen passieren wird — draußen auf dem Schlachtfeld — hat hier und jetzt noch keine Bedeutung. Noch ist die Geschichte Zukunft. Napoleon ist nicht aus Georgia. Er kommt aus Virginia und heißt Marc Schneider. So geht Globalisierung. Majestät ist Anfang dreißig. Wie wird man Bonaparte?

Untergang ist morgen

Marc Schneider ist Schauspieler und Historian. Es ist ein paar Jahre her, da sagt ein Freund zu ihm: „Du siehst aus wie Napoleon.“ Der Freund hat recht. Schneider bewirbt sich als Lookalike, als Doppelgänger. Bei einem Living History Museum in Virginia. „Es ist das Größte in den Staaten“, spricht Marc Napoleon Schneider. Er wird portraitiert. Als der große Korse. Man kauft ihm die Rolle ab. Physiognomie und Schauspieltalent paaren sich zu einem überzeugenden Darsteller. Das Lachen — vielleicht eine Spur zu amerikanisch. Napoleon Monroe. Schneider tritt in „Documentaries“ auf — sprich: Er schauspielert als Bonaparte. Andere geben halt den Elvis. Schneider ist Bonaparte. Das spricht sich herum. Er gibt den Korsen: Weltweit bucht man ihn. Immerhin: Es pulst französisches Blut in seinen Adern. Mütterlicherseits. Man bucht den Ami als Feldherren. Jetzt ist er hier: In Waterloo. Jetzt gibt er Interviews. In Englisch. Mit einem Lächeln, dass nur auf amerikanischen Genen wächst, und die hat er vom Vater. Die machen ihn zur Kopie des Korsen. Er gibt ein Interview nach dem anderen. Zwischendurch: Kutschensitzen für Handybesitzer und Fotografen. Oder Paradenabnehmen mit Marseillaise. There’s no business like show business. Vive la France. Morgen schon wird er untergehen. Trotzdem: Niemand will mit einem Wellington sprechen. Alle wollen Napoleon. Napoleon ist ein Monument. Wellington ist ein Filet. Bonaparte überlebt. Die Erotik des Untergangs funktioniert wohl nur hier: Die Schlacht als Event. Im Zeltlager des Korsen könnte man meinen, dass die Geschichte damals heimlich anders gelaufen ist. Vive la Untergang. Noch ist Zeit, d ie Uniformknöpfe zu putzen. Marc Schneider liebt, was er da tut. Der Teil in ihm, der noch nicht Napoleon ist sagt: „Wer die Geschichte vergisst, ist auf ewig gezwungen, sie zu wiederholen.“ Marc Schneider lächelt. Napoleon bedankt sich. „It was nice talking to you.“ Was willst du dem Korsen wünschen? Good night and good luck? An Schneider: „Have fun.“ Antwort: „I will.“ Und jährlich grüßt das Murmeltier. Wallonie. Waterloo. Am Tag nach der Schlacht: Wiedereintritt in die Erdatmosphäre. Diagnose: Ein Hauch von einer Lichtsekunde entfernt, ist die Galaxie Wallonie wahrhaft bereisenswert. Tip: Autokarte mitnehmen. Sonst macht das GPS aus viel Schönheit eine Restautobahn.

Napoleon