Schreibkraft
Heiner Frost

Familienbande

Hausbesuch
Über die Oma kann Manfred nicht viel sagen. Er kennt sie ja kaum. Irgendwann hatten die Eltern den Kontakt abgebrochen. Eine Oma aus Hörensagen …
Die alte Dame wurde Manfred als herrisch beschrieben. Für die Besuche der Enkel stand irgendwo im Zimmer der Oma ein Stock bereit. Die Kinder bekamen Löffel in den Mund, damit sie nichts sagen konnten. Fiel der Löffel aus dem Mund, gab es Prügel.

So erzählt es Manfred. Er hat es nicht selbst erlebt. Er weiß das von seinen Eltern. An Besuche bei der Oma kann er sich nicht erinnern. Erst nach seiner Hochzeit hat er sie wieder besucht. 2013 muss das gewesen sein. Dann hat er sie nicht mehr gesehen – bis zum 7. September des vergangenen Jahres. Das ist der Tag, um den sich jetzt alles dreht.
Manfred ist Jahrgang ‘83. Geboren in Emmerich. Das steht in den Papieren und hat damit zu tun, dass Manfreds Mutter dort entbunden hat. Mehr nicht. Manfred ist Kranenburger. Er lebt in Nütterden. Er ist Einzelkind. Nach dem Hauptschulabschluss ist es nicht wirklich optimal gelaufen. Nach verschiedenen Ausbildungsversuchen (den ersten brach Manfred ab, weil „ich gemobbt worden bin“) schafft er später einen Abschluss in der Holzverarbeitung. Jobs gibt es nicht wirklich. Hier und da ein Praktikum. Das Problem: Die Gesundheit. Manfred leidet an einer angeborenen Fehlbildung des Enddarms (Morbus Hirschsprung). Immer wieder muss er ins Krankenhaus.
Im Zentrum seines Lebens: Die Frau. Die Tochter. „Das Beste, was mir im Leben passiert ist.“ Der Traum des Paares: Eine Reise nach Amerika: Las Vegas, Malibu. Manfreds Schwager wird das Geld auslegen. Zurückzahlen können Manfred und seine Frau es dann so, wie es gerade auskommt.

Die Lüge
Als Manfred eines seiner Praktika beendet, ist Schluss. Er findet nichts Neues. Er schämt sich, will seiner Frau nichts davon sagen. Sie könnte ihn verlassen, denkt er, und gleitet in eine Phase seines Lebens, die nachzuvollziehen nicht leicht ist. Er geht morgens aus dem Haus, kommt abends zurück – alle denken, dass er Arbeit hat, aber: Da ist nichts. Der Job: Eine Inszenierung, die das Leben moduliert.
Er bewirbt sich: Hier und da. Ohne Erfolg. Dann der 7. September. Manfred beschließt, die Oma zu besuchen. Seine Frau glaubt, er sei „auf Arbeit“. Manfred bittet die Oma um Geld. „Ich weiß, dass man sowas nicht macht“, sagt er. Die Oma hat unmissverständlich erklärt, dass er nichts bekommen wird, sagt er. Sie unterhalten sich. Die Oma zeigt ihm die Wohnung. Sie spricht schlecht über Manfreds Vater – nennt den einen Versager und Nichtsnutz. Sie nennt ihn einen, der es zu nichts gebracht hat. Manfred schlägt vor, irgendwann noch mal mit Frau und Kind zu kommen. Die Oma hat Probleme mit der Waschmaschine. Manfreds Frau könnte es ihr erklären. Die Oma, sagt Manfred, habe dann auch schlecht über seine Frau gesprochen – sie eine Schlampe genannt. „Sie nimmt hoffentlich die Pille“, hat die Oma gesagt. Manfred müsse sonst ja damit rechnen, irgendwann ein Balg untergeschoben zu bekommen. „Da habe ich dann gemerkt, dass meine Hand hoch ging“, erzählt Manfred dem Richter.

Die Staatsanwaltschaft sieht es so: „Der Angeklagte besuchte am 7. September 2015 seine in Bedburg-Hau wohnende 82-jährige Großmutter. Im Gespräch mit dieser geriet er in eine solche Wut, dass er ihr einige Faustschläge versetzte, mit einem Teelichthalter auf sie einschlug, ihr mehrfach gegen den Kopf trat, sie mit den Händen würgte und ihr ein Kissen ins Gesicht drückte. Schließlich schlug er ihr mit einem Briefbeschwerer aus Glas gegen den Kopf. Hierdurch erlitt die Geschädigte mehrere Verletzungen, unter anderem einen Bruch des Nasenbeins und des linken Gesichtsknochens. Im weiteren Verlauf fragte der Angeklagte seine Großmutter, wo diese ihr Geld und ihre EC-Karte aufbewahrt. Aus Angst vor weiteren Schlägen gab sie ihm die verlangte Auskunft. Der Angeklagte nahm daraufhin etwa 1.000 Euro Bargeld, die EC-Karte samt Zettel mit der Geheimnummer an sich und verließ die Wohnung. Mit der EC-Karte hob er weitere 1.500 Euro vom Konto der Großmutter ab.“

Ein Sauberes Leben
Manfred beschreibt es anders. Nach Tritten und Schlägen habe die Oma ihm von sich aus Geld angeboten. Am Schluss habe sie gesagt, sie werde ihn nicht verraten – werde sagen, dass sie gefallen sei …
Ist Manfred vorbestraft? Hat er ein Drogenproblem? Trinkt er? Drei Mal nein. Ein sauberes Leben – das Leben eines Mannes, in dem Gewalt niemals eine Rolle gespielt hat. Er schämt sich, sagt Manfred. Und: Er ist froh, dass die Oma lebt. Dass ihr nichts Schlimmeres passiert ist. Er schreibt ihr am zweiten Tag der Untersuchungshaft einen Brief. Entschuldigt sich. „Haben Sie das aus eigenem Antrieb gemacht oder hat ihnen jemand dazu geraten?“, fragt der Staatsanwalt. Nein, niemand hat ihm dazu geraten. Manfred – ein ruhiger, junger Mann, der bereitwillig Auskunft gibt. Müsste man seine Rolle in einer Verfilmung der Tat besetzen – Manfred wäre der Letzte, den man auswählen würde. Er passt nicht zu seiner Tat. Aber was heißt das schon …?

Pausentratsch
Zur Pause geht es in die Gerichtskantine. Gespräche über dies und das. Der Pächter will zum Sommer aufhören. Der Chef der Forensik in Duisburg hat auch fertig. Job geschmissen. Jetzt geht der in der Karibik. Hat er eine Stelle als Gerichtsmediziner. Zum Teufel mit dem Beamtenstatus. Das muss du dich trauen. Was der wohl mit seinen irischen Wolfshunden macht? Der Abgereiste: Nicht wirklich der typische Gerichtsmediziner. Irgendwie ganz normal. An einem anderen Tisch wird über kontrolliertes Trinken gesprochen: Trinkversuche unter Aufsicht also. Beliebt bei Jurastudenten. „Damals auf jeden Fall. Ich weiß gar nicht, ob es das heute noch gibt.“ Es geht um die Folgen. Es geht um Promillegehalt und Restalkoholabbau. Klingt großartig: Trinken im Dienst der tieferen Erkenntnis. Nach 20 Minuten geht es zurück in den Saal.

„Niemals!“
Nach der Pause: Auftritt der Oma. Sie hat eine andere Geschichte erlebt. Nie hat sie schlecht über Manfreds Vater gesprochen und schon gar nicht über Manfreds Frau und Kind. „Ich kenne die doch gar nicht.“ Nach der Hochzeit damals hat sie Manfred 100 Euro geschenkt. Vor dem Besuch am 7. September ist der Manfred einmal bei ihr gewesen. Vor zwei Jahren war das. Nach der Hochzeit war das. 1983 war das. „Nein“, korrigiert sie, „es war 1993.“ „Denken Sie noch mal nach“, sagt der Richter. „1993“, wiederholt die Oma. Vielleicht ist sie nicht im neuen Jahrtausend angekommen. Aber: Sie weiß genau, wie die Sache am 7. September abgelaufen ist. Sie hat nicht schlecht geredet. Nicht über Manfreds Vater, nicht über Frau und Kind. Die Eltern hätten sein Leben zerstört, soll Manfred der Oma gesagt haben. „Die Eltern haben mein Leben zerstört.“ [Eine Stunde zuvor hat Manfred die Frage des Richters nach dem Verhältnis zu den Eltern mit „mal so, mal so“ beantwortet. Manchmal, wenn sie ihn in der Schule hänselten, haben die Eltern gleich gehandelt – haben die Eltern der Mitschüler aufgesucht. Zu schnell vielleicht. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.]

Auswandern
„Der Manfred wollte mit Frau und Kind nach Amerika auswandern“, sagt die Oma. „Wir haben gut angespart“, soll er gesagt haben. Manfred habe nach dem Angriff, den sie sich überhaupt nicht erklären kann, nach Geld gefragt, sagt die Oma. Er habe am Ende gesagt, sie solle bloß die Polizei nicht rufen. Er werde sie umbringen. Kalt machen.“ Ich mach’ dich kalt.“ Man versucht, Manfred einen solchen Satz anzupassen. Leicht ist das nicht.
Einen Monat hat die Oma nach dem Angriff im Krankenhaus verbracht. Noch heute leidet sie an starken Kopfschmerzen. Sie leidet an Schlaflosigkeit und Panikattacken. Ja, der Manfred hat ihr einen Brief geschrieben, hat sich entschuldigt, aber die Entschuldigung wird sie nicht annehmen. „Niemals.“

Ordnung
Zwei Geschichten. Die 1. große Strafkammer soll Ordnung schaffen – Synchronisation. Juristen stellen Fragen. Es geht um Reihenfolgen. Hat Manfred während des Angriffs nach Geld gefragt? Hat er, nachdem er das Geld hatte, noch geschlagen? Warum hat Manfred seinen Angriff auf die Oma beendet? Wieso hat er von ihr abgelassen? Grenzlinien. Ist Manfred von seiner Tat zurückgetreten?
Das Strafgesetzbuch hat Möglichkeiten. Paragraf 24: „Vom Versuch der Begehung eines Straftatbestandes kann strafbefreiend zurücktreten, wer die weitere Tatausführung freiwillig aufgibt beziehungsweise die Tatvollendung verhindert. Freiwillig handelt, wer durch autonome Motive zum Rücktritt bewegt wird, d.h. wer in freier Selbstbestimmung von der Tat ablässt. Dabei darf der Anstoß zum Rücktritt aber auch von außen, etwa durch den Appell des Opfers oder eines Beteiligten kommen.“
Sie werfen Manfred keinen versuchten Mord vor, denn während des Angriffs lag das Mordmerkmal der Habgier nicht vor. Woher aber kam diese unbändige Wut?
Als er festgenommen wurde, hatte Manfred das Geld der Oma in einen Umschlag gesteckt. „Lohn für Manfred G.“ stand darauf. Der Ausweg aus einer Lüge.
Auch Manfreds Frau sagt aus. Gewalt hat niemals eine Rolle gespielt. Manfred ist einer, der sich eher zurückzieht. Lügen ja. Gewalt nie. Nie hat sie das erlebt. Nie davon gehört. Sie hätte ihn nicht verlassen, auch wenn sie gewusst hätte, dass er ohne Arbeit war. Diskutiert hätten sie natürlich, denn Manfred hat ihr früher schon einmal etwas vorgelogen. Es wird unter anderem darauf ankommen, wie der Gutachter Manfred einschätzt.
Zwei Taten stehen zur Debatte. Zunächst einmal eine gefährliche Körperverletzung (Paragraf 224, Strafgesetzbuch). Der Strafrahmen spreizt sich zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Nähme man einen minder schweren Fall an, blieben drei Monate bis fünf Jahre. Dann die zweite Tat, schwerer Raub (Paragraf 250, Strafgesetzbuch). Der Strafrahmen: fünf bis 15 Jahre – in einem minder schweren Fall bleibt ein Zeitfenster, das sich bei einem Jahr öffnet und bei zehn Jahren schließt. Geht man nicht von einem minder schweren Fall aus, könnte sich das Gesamtstrafenfenster bei fünf Jahren und einem Monat öffnen und bei 15 Jahren schließen. Würde ein minder schwerer Fall angenommen, liegt die untere Strafgrenze bei einem Jahr und einem Monat, die obere bei 14 Jahren und elf Monaten.

Zweiter Tag

Manfred hatte doch längst alles zugegeben, aber die Wahrheit ist keine Glasscheibe. Nichts ist einfach durchsichtig und die Töne changieren …
Ein junger Mann greift eine alte Frau an – schlägt, tritt, würgt sie, die seine Oma ist. Am Ende verlässt er eine schwer verletzte 82-Jährige, nimmt Geld und eine EC-Karte nebst PIN mit, wird kurze Zeit darauf verhaftet. Ja, Manfred streitet all das nicht ab – er weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, denn er ist – das sagen auch andere – kein Gewaltmensch. Die Oma hatte Manfreds Vater beleidigt (Versager, Nichtsnutz) und an Manfreds Frau kein gutes Haar gelassen (Schlampe). So sagte es Manfred am ersten Verhandlungstag – ein junger Mann, der seiner Tat sprachlos gegenübersteht. Ja, er hat die Oma um Geld gebeten – gleich zu Beginn des Besuchs. Dann nicht mehr. Nach dem Angriff hat die alte Dame ihm Bargeld und EC-Karte gegeben.
Die Oma hat niemanden beleidigt. Das sagt sie am ersten Tag. Sie sagt: „Manfred wollte auswandern. Nach Amerika.“ Was sie auch sagt ist, dass Manfred während des Angriffs nicht nach Geld gefragt hat. Das bedeutet: Habgier war nicht das Motiv. Vor Gericht ist eben das von entscheidender Bedeutung. Am Ende des ersten Tages war Manfred einer, der von der Frau abgelassen hat, der möglicherweise von seiner Tat zurückgetreten ist.

Tateinheit?
Am Ende des zweiten Verhandlungstages: Ein anderes Bild. Das zweiteilige Tatgeschehen (Angriff aus Wut – anschließend der Raub des Geldes) könnte nun zu einer Tateinheit werden. Es gibt neue Aussagen – Aussagen der Beamten, die Martin verhört und die alte Dame damals – nach dem Angriff – befragt haben. Ein neues Bild – ein anderer Ton. Nun scheint es so, dass Manfred bereits während des Angriffs Geld gefordert hat. Die medizinischen Gutachterin sagt aus, dass die Verletzungen der alten Dame lebensgefährlich gewesen sind. Eigentlich sagt sie, dass Art und Weise der Verletzungen geeignet waren, zum Tode zu führen. Juristisch geht es um eine „das Leben gefährdende Behandlung“ – es „lag somit eine abstrakte Lebensgefahr vor“. Hat Manfred den Tod der alten Dame billigend in Kauf genommen? Handelt es sich gar um einen versuchten Mord? Laut Staatsanwaltschaft gab es im Rahmen der Ermittlungen widersprüchliche Aussagen. Was soll man annehmen? Die Anklage ist (in dubio pro reo) nicht von einem versuchten Mord ausgegangen.

Der Ausdruck „in dubio pro reo“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Bei diesem terminus technicus handelt es sich um einen Verfahrensgrundsatz (Prozessmaxime) des Strafrechts, der sich aus Art. 1 I GG, Art. 20 III GG, Art. 6 I, II EMRK, §§ 261 und 267 I 1 StPO ergibt. Der Angeklagte darf vom Gericht also nur dann für schuldig befunden – und daher verurteilt – werden, wenn das Gericht von seiner Schuld überzeugt ist, es also keinerlei Zweifel an dessen Schuld hat.
I. Feststellung der Tat als Ergebnis der Verhandlung
Gegenstand des (strafrechtlichen) Urteils ist stets die Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt (§ 264 I StPO) und in der Anklage verzeichnet war (§ 207 StPO; sog. Akkusationsprinzip).
Dabei folgt der Richter – im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft – seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung gewonnenen Überzeugung (Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 261 StPO). Das Beweismaterial muss jedoch erschöpfend gewürdigt werden und eine Verurteilung darf nur dann erfolgen, wenn das Gericht die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei als bewiesen ansieht. Ansonsten greifen die sog. Unschuldsvermutung und der Grundsatz „in dubio pro reo“.
II. Anwendbarkeit des Grundsatzes „in dubio pro reo“
Der Grundsatz „in dubio pro reo“ findet allein im Hauptverfahren Anwendung, nicht aber im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren, da das Gericht nach Würdigung des Beweismaterials von der Schuld des Angeklagten zweifelsfrei überzeugt sein muss.
Im Rahmen der Hauptverhandlung ist dieser Grundsatz jedoch nicht unbeschränkt anwendbar. Unstreitig kann der in-dubio-Grundsatz auf Tatsachen angewendet werden, die die Schuld- und Straffrage betreffen. Umgekehrt ist unstreitig, dass der in-dubio-Grundsatz keine Anwendung bei der Gesetzesinterpretation findet. Strittig ist dagegen, ob der in-dubio-Grundsatz auf Prozessvoraussetzungen anwendbar ist. Nach Ansicht des BGH sei bei Zweifeln am Vorliegen der Prozessvoraussetzungen, die immerhin die fundamentalen, rechtsstaatlichen Voraussetzungen eines Sachurteils seien, das Verfahren stets durch Einstellung zu beenden (vgl. BGHSt 16, 164, 167.).
III. „in dubio pro reo“ bei den sog. Stufenverhältnissen
Bleibt ein Tatvorgang nur deshalb zweifelhaft, weil zwei Verhaltensweisen möglich sind, ist eine Verurteilung in folgenden Fällen möglich:
Besteht zwischen den Verhaltensweisen ein Stufenverhältnis im Sinne eines Mehr oder Weniger, ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nach dem milderen Gesetz zu bestrafen.
Ein begrifflich-logisches Stufenverhältnis besteht zwischen feststehendem Grundtatbestand und nicht nachgewiesener qualifizierten Straftat (wozu auch Erfolgsqualifikationen und Regelbeispiele zählen).
Ein normativ-ethisches Stufenverhältnis liegt vor zwischen Versuch und Vollendung, Beihilfe und Täterschaft, Fahrlässigkeit und Vorsatz.
Umfasst ein Tatbestand jedoch einen völlig anderen, ohne im Verhältnis von Grundtatbestand und Qualifikation zu ihm zu stehen, liegt ein Fall einer unselbstständigen Abwandlung vor. Auch hier darf der Angeklagte nur aus dem „Grunddelikt“ schuldigt gesprochen werden, wenn ihm die selbstständig Abwandlung nicht nachzuweisen ist.
Beispiel: T wird angeklagt, O beraubt zu haben.
Dabei kann nicht festgestellt werden, ob die Nötigungshandlung der Wegnahme diente, sodass T nur wegen Diebstahls und Nötigung schuldig gesprochen werden kann, nicht aber wegen Raubes.
IV. Präpendenz und Postpendenz
Bei der Präpendenz herrscht Klarheit über das Vortatgeschehen, jedoch bleibt das Nachtatgeschehen unklar, während bei der Postpendenz Klarheit über das Nachtatgeschehen besteht, aber das Vortatgeschehen unklar bleibt.
Bei den Grundsätzen der Postpendenz und der Präpendenz handelt es sich also de facto um nichts anderes als um den in-dubio-Grundsatz in Bezug auf die zeitliche Abfolge von Geschehensabläufen.
V. Der sog. Freispruch „zweiter Klasse“
Bei dem Freispruch „zweiter Klasse“ handelt es sich um einen nicht-juristischen Begriff der Medien. Er wird maßgeblich dazu verwendet, um damit die verbliebenen Zweifel an der Schuldfrage zum Ausdruck zu bringen.
Tatsächlich kommt es in Hinblick auf die Rechtsfolgen eines Urteils lediglich auf die Urteilsformel an, nicht auf die Urteilsgründe, aus denen sich die Zweifel ergeben. Daher können diese Urteilsgründe auch nicht isoliert angegriffen werden. So kann eine Grundrechtsverletzung durch Freispruch (aufgrund des in-dubio-Grundsatzes) nur in den seltensten Fällen angenommen werden (vgl. BVerfGE 6,7).

VI. Freispruch durch Urteil und anderweitige Verfahrensbeendigungen
Ein Freispruch, unabhängig ob durch erwiesene Unschuld oder aufgrund des in-dubio-Grundsatzes, ergeht durch Urteil.
Der Freispruch vom Vorwurf einer Straftat bezieht sich lediglich auf die Schuldfrage. Es besteht somit dennoch die Möglichkeit, dem Täter Maßregeln der Besserung und Sicherung aufzuerlegen, wenn klar ist, dass der Angeklagte die Tat zwar begangen hat, bei der Tatausführung allerdings schuldunfähig war.
Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, das Strafverfahren frühzeitig durch Einstellung nach §§ 153 ff. StPO zu beenden. § 153a StPO kann sogar bei mittlerer Kriminalität zur Anwendung kommen, wenn es sich bei der fraglichen Tat um ein Vergehen handelt, der Strafrahmen also die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder die mit Geldstrafe bedroht sind. Eine derartige Einstellung ist jedoch – anders als bei § 153 StPO, der jedoch nur bei Bagatelldelikten zur Anwendung kommen kann – unter Auflagenerteilung möglich. (http://www.juraforum.de/lexikon/in-dubio-pro-reo)

Schlampig
Es bleiben Ungereimtheiten. Ein Topf, mit dem Manfred die Oma bedroht haben soll, ist unauffindbar. Ein Kissen fehlt. Es bleiben Fragen: Wurden Manfred und seine Frau am Tattag umfassend und zum richtigen Zeitpunkt belehrt? Zwei Beamte waren am 7. September zu Manfreds Wohnung gefahren und hatten dort zunächst mit der Ehefrau gesprochen. Sowohl Manfred als auch seine Frau seien jeweils umfassend belehrt worden, sagt der eine Beamte. Dann der andere: Bei seinem Auftauchen wurde Manfred, so scheint es, nicht gleich über den Tatvorwurf belehrt. Man habe Manfred belehrt. Vielleicht nicht gleich zu Beginn. Man sei ohne Verstärkung gewesen und habe nicht gewusst, wie Manfred sich angesicht des Vorwurfs verhalten werde. Die Beamten widersprechen sich. Jetzt sind zwei Schilderungen im Spiel. [Am Ende wird der Staatsanwalt in der Pause zwischen Plädoyer und Urteilsverkündung das Wort „schlampig“ benutzen, wenn er die Belehrung beschreibt. Im Plädoyer wird er es eine „nicht qualifizierte Belehrung“ nennen.

Hinweis
Jetzt allerdings geht es um andere Dinge. Das Gericht berät sich und spricht einen Hinweis aus. Dabei geht es vor allem um die Tatsache, dass aus der angeklagten zweistufigen Tat eine Tateinheit werden könnte. Es kommt – so das Gericht – in Betracht, dass Manfred „gewalttätig wurde, um an Geld und EC-Karte zu kommen“.
Auch steht die Frage im Raum, ob Manfred den Tod seiner Oma billigend in Kauf genommen hat. Manfreds Verteidiger geht davon aus, dass sich ein Tötungsvorsatz nicht wird nachweisen lassen. Falls doch, wäre zu entscheiden, ob der Fall (so sehen es Staatsanwaltschaft und Nebenklage) an das Schwurgericht verwiesen werden muss. Die Entscheidung darüber wird das Gericht möglicherweise am 30. März, dem dritten und nach bisherigen Planungen letzten Verhandlungstag fällen.

Paragraf 250: Schwerer Raub
(1) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn
1. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub
a) eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt, b) sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, c) eine andere Person durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.
(2) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub 1. bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet, 2. in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 eine Waffe bei sich führt oder 3. eine andere Person a) bei der Tat körperlich schwer mißhandelt oder b) durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.
(3) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.
Paragraf 253: Erpressung
(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.
(3) Der Versuch ist strafbar.
Paragraf 255: Räuberische Erpressung
Wird die Erpressung durch Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begangen, so ist der Täter gleich einem Räuber zu bestrafen.

Der Staatsanwalt schaltet sich ein. Natürlich hat er im Vorfeld all diese Möglichkeiten geprüft – dort allerdings in den Aussagen keine Hinweise auf niedere Motive wie Habgier gefunden. Hätten diese vorgelegen, würde es um versuchten Mord gehen. Der Rücktritt von der Tat wäre nicht möglich und – vor allem – wäre in diesem Fall ein Schwurgericht zuständig.
Manfreds Verteidiger geht „davon aus, dass ein Tötungsvorsatz nicht nachweisbar ist“. Die Nebenklage sieht es als möglich an, dass ein bedingter Tötungsvorsatz vorlag beziehungsweise aufgrund der massiven Verletzungen der Tod des Opfers billgend in Kauf genommen wurde. Sollte sich herausstellen, dass das Geld ein Motiv für die Tat war, liegt ein Mordmerkmal vor, der Rücktritt von der Tat spiele dann keine Rolle mehr. Der Fall müsste dann vor einem Schwurgericht verhandelt werden. Die Kammer beendet den zweiten Verhandlungstag. „Wir sehen uns in zwei Wochen.“

Der Letzte Tag

Das hier ist die Wirklichkeit
Im Namen des Volkes: Der Angeklagte wird wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
Das hier ist die Wirklichkeit. Nicht Salesch. Nicht Hold. Das hier sind nicht werbezerstückelte Unterhaltungsfragmente. Das hier ist nicht das Jura-Seminar für Fortgeschrittene. Aber es bietet alle Ingredienzien. „Jura am Hochreck“, zitiert der Staatsanwalt in der Pause seinen Repititor. Das hier ist ein Fall, der bestenfalls einfach wirkt.
Manfred besucht seine Oma. Er ist seit langem ohne Arbeit und lebt mit einer Lüge. Täglich verlässt er das Haus. Die Familie glaubt, er ginge zur Arbeit. Lohn hat er nicht bekommen. Es ist da was schief gelaufen, erzählt er seiner Frau. Eine Woche gibt sie ihm, die Sache zu klären – dann wird sie anrufen und fragen, was mit dem Geld ist. Manfred besucht die Großmutter – bittet sie um Geld. Er braucht einen Ausweg aus seiner Lüge. Die beiden reden. Die Großmutter ist nicht die sanfte alte Dame, an die man denken möchte. Im Lauf des Gesprächs (sie ist dafür bekannt) beginnt sie, Manfreds Familie zu beleidigen – seinen Vater, die Mutter, seine Frau. Manfred rastet aus, schlägt und tritt auf die alte Frau ein, würgt sie – nimmt am Schluss Geld mit und eine EC-Karte nebst Zettel mit der PIN.

Staatsarchiv oder Prüfungsakte
Ein Gericht macht sich auf die Suche: Drei Verhandlungstage. Das hier ist die Wirklichkeit. Kein Seminar. Als der Staatsanwalt sich am dritten Tag in sein Plädoyer begibt, sagt er am Anfang, dass auf jedem Aktendeckel zwei Felder sind, die angekreuzt werden können: Staatsarchiv oder Prüfungsakte. Hier gibt es keine große Wahl: Dieser Fall taugt als Muster – mit ihm kann man Juristen prüfen. Man kann Klausurthemen daraus generieren. Es gibt so viele Schattierungen. „Aber das hier ist nicht Theorie“, sagt der Staatsanwalt, „das hier ist die Praxis.“
Dann erklärt er knapp eine Stunde lang, was sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft zugetragen hat. Es geht darum, was sich beweisen lässt und was nicht. Es geht darum, „im Zweifel für den Angeklagten“ zu entscheiden. Aber was in diesem Fall ist das Dafür und das Dagegen?
Es geht, erklärt der Staatsanwalt, darum, dass man von zwei Konstruktionen ausgehen kann. Die eine: Ein „zweiaktiges“ Geschehen, das mit dem Angriff beginnt. Danach: Das Geld. Der Angriff ist, bevor der Enkel nach Geld und EC-Karte fragt, beendet. Aus zwei Einzelstrafen wird schließlich eine Gesamtstrafe gebildet. Die zweite Version: Bereits während des Angriffs hat der Enkel Geld verlangt. Der Weg, den die Erklärung nimmt, ist ausführlich. Tateinheit heißt die zugehörige Vokabel. Am Ende wird nicht aus zwei Einzelstrafen eine Gesamtstrafe gebildet – es gibt nur eine Strafe. Eine Tat – eine Strafe. Der Staatsanwalt zeigt Zeitfenster auf und erwähnt etwas von einer „Verschiebung des Strafrahmens“.

21 light
Vor dem Plädoyer hat es das psychiatrische Gutachten gegeben. Gutachter sind eine Art „Gerichtshelfer“ – sie strukturieren das Geschehene. Es geht um Begriffe wie Affekt, Steuerungsfähigkeit, Einsicht in das eigene Tun. Zwei Mal spricht der Gutachter von einem „21 light“. War Manfred in der Lage, das Unrecht seiner Tat einzusehen? Juristen suchen nach Ja oder Nein. Ein Jein ist verhandlungsuntauglich. Hilflos sei Manfred gewesen, sagt der Gutachter – hilf-, aber nicht steuerungslos. Könnte man eine Tat im Zeitraffer betrachten und in Sekundenbruchteile spalten – könnte man dabei in den Kopf des Angeklagten sehen, würde man zwei Dinge finden, zwei Gedanken. Der eine: Mir ist gerade der Kragen geplatzt. Der andere: Es ist mir egal.
„Während der Tat war dem Angeklagten klar, was da passiert“, sagt der Gutachter. Dann das Aber: „Aber er war nur eingeschränkt in der Lage, nach dieser Einsicht zu handeln.“ Das Gericht hat Fragen: Was, wenn es so gewesen wäre? Was, wenn anderes angenommen wird?  Der Gutachter formuliert ein Leitmotiv: Was wird vom Geist des gesunden Menschen erwartet? Später bedienen sich alle Beteiligten am Gesagten. Im Zentrum der Überlegungen – der § 21 des Strafgesetzbuches:

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20* bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
[*§ 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen:
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.]

§ 49: § 49 StGB: Besondere gesetzliche Milderungsgründe
(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:
1. An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren.
2. Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze.
3. Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sich im Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre, im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate,
im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate,
im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.
(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.
Ob bei Annahme des § 21 StGB (Ermessensvorschrift) eine Milderung des Strafrahmens nach § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen oder zu versagen ist, hat der Tatrichter unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Bei verminderter Schuldfähigkeit ist grundsätzlich davon auszugehen, daß der Schuldgehalt und damit die Strafwürdigkeit der Tat verringert ist, so daß regelmäßig eine Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen ist, wenn nicht andere schulderhöhende Gesichtspunkte dem entgegenstehen .

Nicht immer gibt es eindeutige Handlungsanweisungen für ein Gericht. Wie einfach könnte das alles hier sein, wenn es auf eindeutige Fragen eindeutige Antworten gäbe. Aber:

Das hier ist die Wirklichkeit.
Zweistufig – wie angeklagt
Der Staatsanwalt sieht ein zweistufiges Geschehen. „So, wie es schon in der Anklageschrift steht.“ Erst der Angriff. Dann die Frage nach dem Geld. Täter und Opfer haben sich in ihren eigenen Aussagen widersprochen. Wovon soll man ausgehen? Die Oma: Widersprüchlich. „Wir können da nicht viel drauf geben“. sagt der Staatsanwalt. Auch Manfreds Aussagen: Unklar. Widersprüchlich. „Wir müssen vom Äußeren auf das Innere schließen“, sagt der Staatsanwalt. Wollte Manfred töten? Wer mit einer zwei Kilo schweren Glaskugel auf das Gesicht einer 82-Jährigen eindrischt, dem muss klar sein, dass er deren Tod in Kauf nimmt?
Das Gericht wird es später anders sehen. Der Angeklagte wurde, daran lässt der Staatsanwalt nicht den leisesten Zweifel, von den Polizeibeamten, die ihn festnahmen, „nicht qualifiziert belehrt“. In der Pause zwischen Plädoyers und Urteilsverkündung fällt das Wort „schlampig“. Man kann bessere Zeugnisse ausstellen. Am Ende fordert die Staatsanwaltschaft eine Gesamtstrafe von sechs Jahren. Zuerst die Körperverletzung – dann der Raub. Das von der Nebenklage geforderte Schmerzengeld von 10.000 Euro: Zu hoch. „Ein Schmerzensgeld kann in diesem Fall nur symbolisch sein.“ Der Vorschlag: 2.000 Euro.

Demontiert
40 Minuten plädiert der Anwalt der Nebenklage. Das Schmerzensgeld liegt, gemessen an den physischen und psychischen Wunden des Opfers, mit 10.000 Euro im unteren Bereich. Am Ende schließt sich die Nebenklage das Strafmaß betreffend der Staatsanwaltschaft an.
Zwischendurch: Ausflüge in die Interpretation dessen, was ein „gefährliches Werkzeug“ sein kann. Im Plädoyer des Staatsanwaltes wurde der Schuh – ein leichter Sportschuh – nicht als gefährliches Werkzeug eingestuft. Die Nebenklage sieht es anders. Die Verteidigung bittet um ein „mildes Urteil im Ermessen des Gerichts“. Was da geschehen ist, war eine spontane Entwicklung. Nicht geplant. Nicht vorhersehbar. Der Angeklagte: Herabgesetzt und gekränkt. Als Person demontiert. Demoliert. Es kommt zu einer spontanen Entladung. Der Angeklagte hat das letzte Wort: „Mir tut das alles leid. Ich wollte das nicht. Ich bin froh, dass Oma noch lebt.“ Manfred – alle haben das bestätigt – war und ist kein Gewaltmensch. Er neigt zum Rückzug. Wenn es eng wird, flüchtet er in Lügenkonstruktionen.

Die Kammer spricht
Am Ende das Urteil. Die Kammer spricht. Ein einaktiges Geschehen. Schon beim Angriff hat der Angeklagte nach Geld verlangt. Eine Tötungsabsicht hat zu keiner Zeit bestanden. Wenn einer wissen will, wo das Geld ist, wird er sein Opfer nicht töten. Im Zentrum der Begründung steht ein Wort: Affektsturm. Besonders schwerer Raub in Tateinheit mit einer schweren Körperverletzung. Man muss dem Gericht nicht in seine Begründung folgen. Wenn einer, vom Affektsturm in die Gewalt getrieben, auf sein Opfer einschlägt, eintritt – denkt er dann noch immer: ‘Ich brauche das Geld – das Opfer muss leben’?
Das Urteil zeigt: Unterschiedliche Sichtweisen führen mitunter zu gleichen Ergebnissen. Das Schmerzensgeld von 10.000 Euro: Angemessen – anders als Staatsanwaltschaft und Verteidigung es sahen. Ein „symbolisches Schmerzensgeld“ sei im Gesetz nicht vorgesehen, sagt der Richter.

Schlussbild
Was im Kopf stecken bleibt, ist ein Bild, das im Prozess zwei Mal auftauchte. Man hört den Text und sieht einen Film: Die Enkel zu Besuch bei der Oma. Sie bekommen einen Löffel in den Mund gesteckt. (Wer einen Löffel im Mund stecken hat, kann nicht sprechen.) Wenn der Löffel aus dem Mund fällt, kommt der Stock zum Einsatz.
Taten wie diese sind unentschuldbar – sie müssen es sein. Und trotzdem: Wenn Menschen schon über eine Hecke in Rage geraten, weil Zweige über Grundstücksgrenzen wachsen … Am Ende geht es meist nicht mehr um Zweige – es geht um all das, was zuvor nie gesagt wurde. Diese Tat und ihre Vorgeschichte: Ein einziges Gestrüpp aus Zweigen von Fremdheit: Ein Sohn, der den Kontakt zu seiner Mutter längst abgebrochen hat. Seine Mutter: Manfreds Oma – das Opfer. Man gerät ins Wanken, wenn es darum geht, Opfer auszumachen. Noch einmal: Was Manfred getan hat, ist nicht entschuldbar. Am letzten Tag fällt immer wieder das Wort „exkulpierbar“. Mea culpa. Mea maxima culpa.
Die Oma: Eine, die alles und alle schlechtredet. Die eigenen Kinder sogar – bis auf einen. Er ist ihr Prinz. „Wenn mein Mann Geburtstag hatte“, erzählt Manfreds Mutter dem Richter, „bekam er zwei Schachteln Zigaretten von seiner Mutter. Wenn der Prinz Geburtstag hatte, gab es einen Fernseher und den Videorekorder noch dazu.“ Was muss schief laufen, damit ein Mensch – gemeint ist die Oma – so wird? Kaum jemand, dem selbst nie ein Schmerz gewachsen ist, verletzt andere so, wie diese Frau es anscheinend getan hat. Von wie viel Einsamkeit sprechen ihre Demütigungen der anderen? Wie allein ist sie im eigenen Leben? Wie verloren? Das alles spielt beim Urteil keine Rolle. Justiz ist ein System, das Strafen mit Taten synchronisieren muss und manchmal, denkt man, stimmt etwas mit der Reihenfolge nicht. Mit dem Denken. Wenn ein Hut nicht passt, wird man nicht den Kopf zurechthobeln.
Der psychiatrische Gutachter: Ein Reiseführer durch aberwitzige Hypothesen. Könnte es vielleicht sein, dass …? Man reibt sich die Augen. Ja – es gibt wenig Konkretes. Täter und Opfer im Widerspruch zu sich selbst. Was soll man denn auch annehmen? „Wir müssen vom Äußeren auf das Innere schließen“, hatte der Staatsanwalt im Plödyoer gesagt. Wollte Manfred töten? Wer mit einer zwei Kilo schweren Glaskugel auf das Gesicht einer 82-Jährigen eindrischt, dem muss klar sein, dass er deren Tod in Kauf nimmt? Es gibt so viele Hypothesen. Jede Hypothese schattiert die Tat anders – gibt ein anderes Muster frei.

Warum eigentlich nicht?
Der Prozess zeigt die unterschiedlichen Sichtweisen. Die Kammer folgt nicht dem Staatsanwalt. Am Ende ist das Strafmaß trotzdem identisch. Manfred geht für sechs Jahre ins Gefängnis. Wird seine Frau auf ihn warten? Die Wirklichkeit kennt und erzählt andere Geschichten. Wenn alles schlecht läuft, wird die Frau sich von Manfred trennen – nach drei Jahren vielleicht. Höchstens vier. Manfred wird auf Schulden hocken und nach der Entlassung an einer Wirklichkeit ersticken, die ihm die Luft zum Atmen nimmt. Kann, darf man Mitleid haben? Darf man ihn bedauern? Den Täter? Warum eigentlich nicht? Sucht man das schwächste Glied in dieser Struktur aus Trostlosigkeit, wird man wohl immer bei Manfred landen. Ein unscheinbarer Mensch, der im Lauf eines Vormittags sein Leben aus der Hand gegeben hat.
Am Ende wünscht der Richter dem Angeklagten, „trotz dieser schlimmen Sache alles Gute für Ihr weiteres Leben“. Der Fall, so viel scheint sicher, wird es in die Seminare schaffen. Musterlösungen wird es nur am grünen Tisch geben. Das Widerspruchslose taugt nicht für die Praxis.