Schreibkraft
Heiner Frost

Einmal Antwerpen einfach

Gut Ding will Weile haben

Nicht jeder Koloss kommt aus Rhodos. Mancher kommt aus Kleve. Von Winkels. Dieser hier ist 67 Meter lang, wiegt 241 Tonnen und muss nach Antwerpen. BASF hat bestellt. Winkels hat gebaut. Transportieren tun andere. Die Fahrkarte: Einmal Antwerpen einfach. Know How meets Logistics. Es gilt: Gut Ding will Weile haben.  Groß Ding aber auch. 9,3 Kilometer in fünf Stunden. Das Monster verreist per Nachtaktion. Nebel wäre schlecht.  Dann müsste der Ausflug verschoben werden und — zugegeben: Das Wort „Flug“ passt nicht gerade zu einem Stundenmittel, das nur eine Kleinigkeit über der FPG angesiedelt ist. Ach ja: FPG steht für Fronleichnamsprozessionsgeschwindigkeit.

Ohne Okay rollt nix vom Hof

Das Reisebüro für Ausflüge der besonderen Art heißt Nöpel und sitzt in Bochum. Nöpel, Internationaler Transport- und Genehmigungs-Service. Wer 241 Tonnen wiegt und 67 Meter lang ist, wird nicht ohne weiteres auf die Straße gelassen. Nöpel hat die Anträge gestellt, den administrativen Teil erledigt. Alles ist bis ins Detail geplant. Es ist Montag, der 5. Februar, 21 Uhr. Auf dem Gelände der Firma Winkels steht alles bereit. Polizeihauptkommissar Manfred Opgenorth überprüft die Reisegruppe. Wenn er jetzt sein Okay nicht gibt, rollt nix vom Hof. Aus die Maus. Es geht um Abmessungen, Ladungssicherung — es geht um Fahrtrouten, die Begleiter und ihre Papiere, und: Es geht um Zeit. Um 22 Uhr soll losgefahren werden. Gegen 21.30 Uhr gibt Opgenorth das Okay. Es kann losgehen. Eine Stunde später wird der Koloss die ersten 400 Meter geschafft haben. Ampeln müssen abgebaut werden und Straßen gesperrt. Opgenorth hat sechs Wagen und sechs Männer für den Einsatz geplant. Bei dem, was jetzt kommt, ist Gegenverkehr nicht erwünscht. Der Koloss muss von Kleve in die Emmericher Rheinwiesen und wird rund fünf Stunden lang der einzige Verkehrsteilnehmer sein — Begleitfahrzeuge ausgenommen. Immerhin: Transporte wie dieser sind fast schon Alltag, denn die Firma Th. Winkels ist eine Art Kolossbrutstätte. Was in Kleve gebaut wird, geht hinaus in die Welt. Meist über den Rhein. Und der Weg zum Rhein führt (noch) mitten durch Kellen.

Viel Joystick, wenig Gameboy

Das Spezialunternehmen in Sachen Großtransport kommt aus Breda: ALE Lastra — Heavy Transport and Lifting. Der Koloss liegt an seinen beiden Enden auf vielachsigen Lafetten. Das Gewicht muss verteilt werden. Pro Achse werden acht Räder gezählt. Insgesamt gibt es zehn Achsen — achtzig Räder also. Hydraulik regiert jede Bewegung. Jedes Räderpaar ist einzeln ansteuerbar. Alles geht per Joystick, aber was die „Fahrer“ in der Hand halten, ist alles andere als ein Gameboy. Es geht um Millimeter, es geht um Präzision: Es geht um alles. Jeder Fehler beim Lenken kann teuer werden. Sehr teuer. Für einen Koloss wie diesen, den sie in der Fachsprache Kolonne nennen, ist eine Hauswand wie Streuselkuchen. Die Lafetten heißen im Fachchinesich, das heutzutage auf Englisch stattfindet „Self Propelled Modular Transporter“. Abkürzung: SPMT.

Eigentlich ein Kolösschen

Rund 1200 PS werden den Koloss in Bewegung setzen und halten. 22.30 Uhr. Außentemperatur: Zwei Grad. Tendenz fallend. Das Einbiegen auf den Klever Ring dauert gute 25 Minuten. Die Ampeln sind längst abgebaut. Bäume allerdings sind nicht versenkbar. Vorsicht ist geboten. Wer den Koloss auf den SPMTs sieht, dem wird klar, wie zerbrechlich ein Baum ist. Und noch eins wird klar: Nämlich, warum der Kreisverkehr an der van den Bergh Straße „durch die Mitte befahrbar“ ist. Manfred Opgenorth: „Wenn das hier ein normaler Kreisverkehr wäre, könnten keine Transporte durchgeführt werden. Mit so einem Ding fährst du nicht mal eben um die Kurve.“ Wohl wahr. Der Koloss, erklärt der Polizeihauptkommissar, ist eigentlich bestenfalls ein Kolösschen. Was sind schon 67 Meter. Neulich hatten sie einen, der war 80 Meter lang. 80 Meter sind, was die Rangiermöglichkeiten an dieser Strecke angeht, das obere Ende der Fahnenstange. Sollte dermaleinst eine Umgehung kommen, können die Kolosse wachsen. (Die Pylonen der Emmericher Rheinbrücke haben eine Höhe von 74,15 Metern. Der 80 Meter Koloss von neulich würde also den Brückenscheitel locker um fast sechs Meter überragen.) Demnächst werden sie ein 600-Tonnen-Monster auf die Piste schicken, erzählt Patrick van der Meide, Operations Manager bei ALE Lastra. Obwohl derlei Transporte in Kellen fast schon ein bisschen alltäglich sind, fehlt es längs der Strecke nicht am Publikum. Freilich ist die Strecke keine Rennstrecke, und die „Boxenluder“ am Straßenrand sind meist männlich. Technik, die begeistert.  Längst ist die erste Ampel wieder in Betrieb. Der Kranwagen macht sich auf zur nächsten LZA. Ach ja — LZA steht für Lichtzeichenanlage. Ampel war gestern. Mit dem Kolösschen auf den SPMTs nimmt die Crew die Kreuzung zur Emmericher Straße mit Links, obwohl es rechts ab geht. 67 Meter — Kindergeburtstag. Und doch: Wenn sich der spärlich beleuchtete Koloss durch die Straßen schiebt — knappe zehn Meter hoch — wirkt es, als wäre ein Rieseninsekt auf Nahrungssuche. Science-fiction  am Niederrhein.

Steinhäger auf Reisen

Zum Konvoi gehören zwei „Reboiler“, die am Zielort an die Kolonne angebaut werden. Die Reboiler sehen ein bisschen aus wie aufgepumpte Steinhäger-Flaschen oder wie die alten Heißwasserboiler im Badezimmer. Apropos Kolonne: Wofür wird denn der Koloss gebraucht? Josef Feitsma, Montageleiter bei Winkels, kann diese Frage nicht beantworten. Betriebsgeheimnis. BASF hat bestellt. Feitsma wird irgendwann im April zur Endmontage in Antwerpen sein. So viel allerdings wird verraten: Eingesetzt werden Kolonnen unter anderem zur Chemikalienaufbereitung bei der Kunststoffproduktion. Feitsma aber begleitet den Transport nicht der Fragen wegen. Zwar hat Winkels den Transportauftrag vergeben, aber: Vertrauen ist gut … Die Reboiler wiegen — Fahrzeug inklusive — schlappe 110 Tonnen. Trotzdem: Hübsch eingerichtet könnte eine Kleinfamilie leicht und gemütlich in ihnen wohnen. Der Koloss bringt es (SMPT eingerechnet) auf 425 Tonnen — das sind 425.000 Kilogramm. 425.000 Kilogramm Zucker, abgepackt in Kilo-Tüten, würden — übereinandergestapelt — einen Turm von rund 68.000 Metern Höhe ergeben; hintereinandergelegt, entspräche das in etwa der Strecke, die der Koloss zurücklegen muss, bis er die Rheinbrücke erreicht. 425.000 Kilogramm — das entspräche dem Gewicht von 5.000 Männern à 85 Kilogramm oder 3.400 Badewannen, jede gefüllt mit 125 Litern Wasser oder 250 Golf V. Letztere wiederum würden — übereinandergestapelt — einen Turm ergeben, der immerhin rund 440 Meter hoch wäre. Zahlenspiele.

… und dann immer geradeaus

Der Transportweg ist eigentlich simpel: Einmal links, zweimal rechts, dann viel geradeaus, einmal rechts, und ganz am Ende noch die Böschung zu den Rheinwiesen hinunter. Auf dem Weg zum Ziel werden Ampeln mit Kranwagen aus der Verankerung gehoben, Straßenschilder „verschwinden“ und im logistischen Hintergrund werden Straßen großräumig abgesperrt. Für Manfred Opgenorth und sein Team ist all das — ähnlich wie für die Transporteure — ein Stück Routine.

… und gut is

Als die „Reisegruppe Winkels“ gegen 1.55 Uhr kurz vor der Emmericher Rheinbrücke rechts abbiegt, liegen noch zwei Stunden Arbeit vor den Beteiligten. Noch einmal rund 600 Meter, dann muss der Konvoi in die Rheinwiesen abbiegen. Die Reboiler werden auf ihren Sattelzügen mal eben rückwärts die Nato-Rampe hinunter gefahren und später „aufgebockt“. Zum Schluss folgt der Koloss, und während der gegen 2.45 Uhr „einparkt“, legt unten am Rhein schon der Schuber an, der am nächsten Tag beladen wird. Ein Schuber ist das eigentlich nicht, sondern ein Ponton mit einer dahinter gespannten Schiffsmaschine. Um drei Uhr ist Schluss. Längst liegt schwerer Raureif auf den Wiesen. Die Straßen sind glatt. Die Crew wird sich schlafen legen. Um 3 Uhr morgens ist für Opgenorth und seine Mannschaft der Einsatz beendet. Rückkehr zur Hauptwache Kleve. „Das Ding“ ist von der Straße: Und gut is. Und was kostet die „Fahrkarte“ von Kleve in die Emmericher Rheinwiesen? Da kommen rund 30.000 Euro zusammen. Einfache Fahrt.

Der nächste bitte

Dienstag, 6. Februar, 9.30: Der Koloss bewegt sich wieder. Auf der Nato-Rampe — einer Betonpiste — geht es jetzt das letzte Stück in Richtung Rhein. Da wartet das Ponton. Zwischen Ufer und Ponton sind längst Stahlplatten verlegt: Der „rote Teppich“ für einen stählernen Giganten. Wenn der Koloss auf seinen SPMTs auf das Schiff rollt, wird an jeder Seite eine handbreit Platz bleiben. Mehr nicht. Präzisionsarbeit. Wieder einmal. Schon am Mittwoch wird die Kolonne Antwerpen erreichen. Wenn das Ponton nebst Schubmaschine sich auf den Weg macht, wird die Wasserschutzpolizei kommen. Nicht nur auf dem Asphalt muss der Verkehr geregelt werden. Und während der Koloss für die Flussfahrt vorbereitet wird, hängt in Kleve längst der nächste Gigant am Kran. 80 Meter diesmal. Und ein bisschen schwerer wird er auch.

Koloss