Schreibkraft
Heiner Frost

Die Vermessung des Elends

Man könnte schnell fertig sein: Marokkaner, der im Januar in Haldern zunächst am Bahnhof einen Mann mit der Axt bedrohte und anschließend ein Paar in einem Auto ebenfalls bedrohte, wurde jetzt verurteilt. Das Gericht verfügte außerdem die Unterbringung des Mannes in der Forsensik.


Gerichtsprozesse sind Rückblendemaschinen. Erst mit dem Urteil findet der Wiedereintritt ins Gegenwärtige statt …
Ein Mann fühlt sich verfolgt und flieht – es ist der 28. Dezember – in eine Polizeiwache. Er erhofft sich Schutz, wird aber – unter den Augen anwesender Beamten – „übel zusammengeschlagen“. (Unterlassene Hilfeleistung?)
Ein Mann wird – Jahre ist es her – in Marokko – von Polizisten gefoltert. Auf seinem Gesäß drücken sie Zigaretten aus und setzen die Genitalien unter Strom. Noch heute kann es passieren, dass er sich beim Gedanken an dieser Vorfälle einnässt.
Ein Mann steht, es ist der 2. Januar 2018, am Bahnhof in Haldern. Er hat eine Axt in der Hand. Er bedroht damit einen am Bahnsteig wartenden Lokführer. Der Mann ist auf dem Weg zur Arbeit. „Du Geld!“, schreit der Angreifer. Das Opfer wirft 25 Euro auf den Boden. Das Geld wird ins Gleisbett geweht. Der Angreifer sammelt das Geld auf, das Opfer nutzt die Gelegenheit zur Flucht und steigt in einen kurze Zeit später einfahrenden Zug. In Duiburg erstattet der Mann Anzeige. Es ist ein Dienstag. „Ich habe mich dann bis sonntags krank schreiben lassen“, erzählt er dem Richter. Längst ahnt man, dass der Mann, der nach außen einen gelösten Eindruck zu erwecken versucht, ein im Inneren Gezeichneter ist.
Ein Mann legt ein Fahrrad auf die Straße. Es ist der Abend desselben Tages. Ein Auto nähert sich. Die Fahrerin bringt ihren Wagen mit einer Vollbremsung zum Stehen, dann schlägt an der Beifahrerseite eine Axt ein. Ein Horrorszenario. Der erste Schlag trifft mit ziemlicher Wucht die B-Säule des Wagens, der zweite Schlag lässt das Fenster der Beifahrerseite zersplittern. Die Axt trifft den Beifahrer am Arm. Eine Wunde entsteht. Dem Beifahrer gehen die Sicherungen durch. Er brüllt den Mann mit der Axt an und noch bevor er aus dem Wagen steigt, ergreift der Angreifer die Flucht. Später stellt er sich in Belgien der Polizei.
Der Mann mit der Axt ist derselbe Mann, der zunächst in Marokko von Polizisten gefoltert und später in einer deutschen Polizeiwache unter den Augen von Polizisten „übel zusammengeschlagen“ wurde.
Der Mann aus Marokko – der Täter also – kann sich nicht erinnern. „Aber wenn alle Zeugen aussagen, dass ich das gewesen bin, dann muss das stimmen“, sagt er am zweiten Tag der Verhandlung. Er, dem Schlimmes widerfahren ist – er, der (so sagt es der psychiatrische Gutachter während des Prozesses) durch den Angriff in der deutschen Wache retraumatsiert wurde, der an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis leidet, er, der ohne Drogen keine Ruhe findet – er traumatisiert mit seiner Tat andere Menschen aufs Schwerste. Das Opfer wird zum Täter. Die Erkenntnis, dass er es ist, der das Leben anderer betreten und beschädigt, wenn nicht zerstört hat, ist für ihn schwer zu ertragen. Er hätte doch wissen müssen, wie sich Unrecht anfühlt. Taten sind Opfermultiplikationsmaschinen. Kaum eine Seele, die am Ende unzerkratzt bleibt.
Trotzdem oder eben gerade deshalb muss gerichtet werden. Gerichtsbarkeit ist das Zusammentragen von Fakten, ist eine finale Bewertung und dann auch Strafe. Dass da ein selbst Traumatisierter (vielleicht aus der eigenen Not heraus und der Unfähigkeit, die Krater in der eigenen Seele zu ertragen, geschweige denn zu heilen) selbst zum Täter wird und in einem Strudel endet, der aus dem einen Wunsch geboren wird „Ich will hier weg!“, muss von den Profis eingestuft, erklärt und abgestraft werden. Für das, was Amar (Name geändert) getan hat, lassen sich Paragraphen benennen. Ist die Entsprechung im Gesetzbuch gefunden, werden Strafrahmen sichtbar – zeichnet sich ein „von bis“ ab. Die Justiz breitet ihr Korsett aus.
Zeugen treten auf – manche von ihnen sind Fremdkörper im eigenen Leben geworden – und tragen „Filmfragmente“ zur Rekonstruktion des Geschehenen bei. Eine Tat entsteht zum zweiten Mal. Nicht selten wird am Ende ein Gutachten erstattet, das sich mit den psychiatrischen Leitplanken der Tat befasst. Amar ist schwer traumatisiert. Seine Geschichte von der Folter: Glaubhaft. Seine Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt: Erheblich eingeschränkt. Amar, so sagt es der Gutachter, erfüllt die Voraussetzungen für die Anwendung des Paragraphen 63 StGB:
Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
Nach Besichtigung von Tat und Umständen – immer wieder wird die Geschichte aus anderen Perspektiven dargestellt und immer wieder entsteht eine anders gefärbte Rückblende – stehen die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung an: Eine Tat – zwei Sichtweisen. Die Staatsanwaltschaft sieht in Amars Tat Brutalität und Rücksichtslosigkeit. Zwei Taten hat er begangen, deren Brutalitätskurve ansteigend verlaufen ist. Es geht um die Aneignung von Geld und später um die Aneignung eines Fahrzeugs.
Der Gutachter hat gesagt, es sei um die Umsetzung dieses Wunsches gegangen: „Ich will hier weg!“ Nicht alles, was einer tut, der eine Retraumatisierung erlebt hat, lässt sich rational argumentieren. Es funktioniert nicht nach dem Motto: Die 25 Euro Beute der ersten Tat reichen nicht aus, es muss mehr her. Der innere Befehl lautet: Weg hier. Irgendwohin, wo Schutz gefühlt oder vermutet werden kann.
Der Staatsanwalt lässt keinen Zweifel am zerstörerischen Potenzial der Tat in Bezug auf die Opfer. Er fordert am Ende eine Gesamtstrafe von acht Jahren und die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Der Angriff am Bahnhof: Eine schwere räuberische Erpressung. Die zweite Tat: Ein räuberischer Angriff auf einen Kraftfahrer und ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr. Wenn eine Fahrerin ihr Auto durch eine Vollbremsung zum Stehen bringt, weil ein Rad auf der Straße liegt, ist das Letzte, was sie erwartet, ein Angriff dieser Art.
Neben all den Rückblenden offenbart der Blick in den Verhandlungssaal unterschiedliche Gegenwarten. Da ist die Gegenwart des Angeklagten, in der das eigene Leben sich zu einer Erwartung verengt, die sich in einer Zahl offenbart und den Verlust der Freiheit in Ziffern ausdrückt.

Da ist auch die Gegenwart des Lokführers. Dreimal sagt er während der Befragung durch das Gericht, dass er sich nicht mehr „mit dieser Sache“ befassen möchte. „Im Dunkeln“, sagt er, „bin ich jetzt oft schneller unterwegs als früher“. Da misst einer die Spitze eines inneren Eisbergs der Verzweiflung darüber, dass nichts mehr ist wie es war.
Die Verteidigung sieht in der Bahnhofstat einen minder schweren Fall. Immer wieder wird klar gemacht, dass es nicht um ein Kleinreden der Tat geht. Aber: Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte. In vielen Punkten stimmt die Verteidigerin dem Staatsanwalt zu, aber es gibt Dinge, die man anders sehen, anders bewerten kann.
Der Angeklagte hat längst gespürt, was sich da über seinem Kopf und über seinem Leben zusammenbraut. Er bittet um Verzeihung und sagt, dass er nicht er selbst war. Da ist einem das eigene Leben entglitten, aber er hat auf dem Weg in die Tiefe andere mitgerissen und deren Leben massiv beschädigt.
Ja, der Fall am Bahnhof: Minder schwer. So sieht es am Ende auch die Kammer. Der Angriff auf das Auto: Horror. Zum dritten Mal wird der Begriff genannt. Sieben Jahren lautet das Urteil. Der Angeklagte wird in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Es wird darum gehen, ihn in eine erträgliche Existenz zurückzubetten – in ein Leben, das er leben kann. Derzeit nimmt er Medikamente, ohne die sein Leben ohnehin eine Hölle ohne Deckel wäre.
Man steht auf dem Gang und da ist das Echo des Satzes: „Wir wissen, dass der Angeklagte in den Räumen der Polizei übel zusammengeschlagen wurde.“ Der Vorsitzende hat ihn gesagt. Später, bei der Urteilsbegründung sagt er, dass das Zusammenschlagen „unter den Augen der Beamten“ stattgefunden hat. Für das Volk, dessen Teil man ist, offenbart sich hier ein Horror der anderen Sorte. Der Prozess: Eine Vermessung von Elendigkeiten. Was der Angeklagte getan hat, ist schlimm, aber man muss nach Erklärungen suchen. Die schlimmsten Traumata werden immer dann ausgelöst, wenn Menschen gerade von denen verletzt, hintergangen, gequält werden, denen sie vertraut haben. Eltern vergehen sich an den eigenen Kindern. Vertreter des Staates, bei denen man sich in Sicherheit fühlte, werden zum Teil geschehenden Unrechts. Eben dann wächst der Horror der anderen Art, weil ein Urvertrauen zerstört worden ist. Das hat der Gutachter gesagt und – verdammt noch mal – er hat Recht. Dass der Richter die Vorfälle auf der Polizeiwache in Gladbeck zweimal thematisiert hat, ist der Ansatz eines Heilungsversuches.