Schreibkraft
Heiner Frost

Die Stille nach dem Schuss

Keine Diskussionen

Themen können spalten. Kompromiss unmöglich. Man ist dafür oder man ist dagegen. Jagen ist eines dieser Themen. Die Fronten sind geklärt. Für die einen Quälerei — für die anderen notwendiger Bestandteil von Hege und Pflege.

Sicherheit vor Strecke

Ein Morgen im Reichswald. Es ist kurz vor neun. Auf dem Parkplatz am Ehrenfriedhof treffen sich rund 50 Jäger. Das Staatliche Forstamt Kleve hat eingeladen. Auf dem Programm: Bewegungsjagd auf Schalenwild. Jagdleiter ist Hanns-Karl Ganser, Chef des Forstamtes. Im Revier ist alles vorbereitet — an den Straßen haben sie Schilder aufgestellt: „Treibjagd“ — Tempo 50. „Eigentlich“, erklärt Hanns-Karl Ganser auf „ist das hier keine Treibjagd.“ Aber es steht nun mal auf den Schildern. Das hier ist eine Bewegungsjagd. Für den Laien entsteht Erklärungsbedarf. Nun denn: Auf einer Fläche von rund 500 Hektar werden die Jäger einzeln verteilt. Macht Pi mal Daumen zehn Hektar pro Jäger. Die Teilnehmer werden allerdings nicht zu Fuß unterwegs sein. Jeder ist auf einem Ansitz zu finden. Die Ansitze sind dazu da, den Jäger in eine erhöhte Schussposition zu bringen. Das Schießen in der Waagerechten wäre denn doch zu gefährlich, und eines ist ganz klar und sozusagen oberstes Gebot: Sicherheit geht vor Strecke. Strecke? Strecke, das wird am Ende die Summe der erlegten Stücke sein. Es gibt viel Fachvokabular zu verdauen — nicht für die Teilnehmer (die kennen sich aus).

Überläufer sind gebührenfrei

Bevor es in den Wald geht, werden die Teilnehmer in Gruppen eingeteilt. Jagdscheine werden kontrolliert, Absprachen werden getroffen. 50 Euro beträgt das Startgeld. Frischlinge und Überläufer sind ohne Gebühr zu erlegen. Was sind Überläufer? Überläufer sind quasi Wildschweine im Zwischenstadium: Nicht mehr Frischling und noch nicht Keiler oder Bache. Zu erkennen am Gebiss, denn: Auch das Wild hat zunächst einmal Milchzähne. Zurück zu den Regularien. Frischlinge und Überläufer also sind gebührenfrei. Was größer ist, kann teuer werden. Das gilt auch für die Hirsche. Wer es auf ein kapitales Stück abgesehen hat, sollte vorher seinen Kontostand prüfen, denn da können schnell mal tausend Euro zu Buche stehen. Jeder Schuss also will wohl überlegt sein. Am Ende werden manche „einiges gesehen“ haben. Den Schuss haben sie sich verkniffen. (Wir wissen warum.)

Spurlaute Hunde

Zurück zur Bewegungsjagd. Hanns-Karl Ganser erklärt das Prinzip. Die Bewegungsjagd sei für das Wild stressfrei. Stressfrei? Wie soll das gehen? Nun ja, es werden keine Treiber eingesetzt sondern spurlaute Hunde. Spurlaute Hunde verbellen das Wild schon auf größere Entfernung. Wichtig für alle Beteiligten. Es gibt viel zu klären im Vorfeld. Und zu Blasen, denn die Jagd beginnt mit einem Signal. Schnell finden sich ein paar Waidmänner, die des Hornspielens mächtig sind. Das Signal wird gegeben — danach geht es für die ‚Waldmänner‘ an an ihre Standplätze. Rund drei Stunden wird die Jagd dauern — dann wird der letzte Schuss gefallen sein.

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Das Leben vor dem Tod

Die Sache mit der Stressfreiheit beginnt mich zu beschäftigen. Ich denke an einschlägige Dokumentationen aus Schlachthöfen. Gepeinigte Kreaturen sieht man da — aufgezogen in Hitechställen und zu nicht anderem nutze als zur Produktion von Fleisch. Tod als Programm. Das ist hier anders. Schließlich wird nicht jedes Stück, das den Wald bevölkert, erlegt. Es gibt eine Chance, und: Es gibt ein Leben vor dem Tod. Und eben dieses Leben scheint allemal lebenswerter als das eines Huhns in der Legebatterie. Was im Wald kreucht und fleucht, kann sich glücklich schätzen. Die Jagd, erklärt Hanns-Karl Ganser, ist notwendig für die Populationskontrolle. Das Wild hat längst keine natürlichen Feinde mehr. Der Mensch muss eingreifen. Der Mensch, denke ich, greift auch ein, wenn in einem Hähnchenmastbetrieb täglich hunderttausende Küken vergast werden, weil der Zufall es wollte, dass sie nicht Hahn wurden sondern Huhn. Und so viel steht fest: Die hier an den Start gehen, sind keine blutrünstigen Machos mit sadistischen Ambitionen.

Ein Kind, lauter Jungs

Da wären Andreas und Simone Thoneick. Kennen gelernt haben sie sich im Wald. Heute sind sie verheiratet, haben „ein Kind, lauter Jungs“, zählt die Mama und sind beide Jäger aus Leidenschaft. Andreas Thoneick ist Forstoberinspektor. Früher hätte man Oberförster gesagt. Mit zur Familie gehören zwei Teckel. Nein, ein Huhn schlachten, das kann sie nicht, erklärte Simone. Vielleicht, sucht sie eine Erklärung, vielleicht liege es ja daran, dass das Huhn schon eine Art Haustier sein. Und schließlich töte man nicht, was man kennt. Wir gemeinen Schnitzelverzehrer dürfen uns also glücklich schätzen. Wir müssen nicht schlachten, was wir braten wollen. Der Fleischkonsum würde wahrscheinlich drastisch sinken. Viele von uns wollen nicht wissen, wie ihr täglich Fleisch produziert wird, denn: Produktion ist das in der Tat. Tierhaltung ist etwas anderes.

Nichts für arme Leute

Die hier das Wild Aug in Aug erschießen, tun das bewusst, obwohl nicht alle später das Wildbret mit nach Hause nehmen werden. Wer das erlegte Tier in die heimische Truhe packen möchte, zahlt nämlich extra. Der kapitale Hirsch, dessen Abschuss mit rund tausend Euro ins Kontor haut, müsste, sollte er in Jägers Topf wandern, nach Kilopreis gekauft werden. Nicht eben billig wäre das. Und hier mag sich Unmut regen. Ist Jagd also nur etwas für die Oberen Zehntausend? Ein bisschen vielleicht. Auch die Ausrüstung ist nicht eben preiswert. Ein Jäger besitzt in der Regel mindestens zwei Waffen. Für die Bewegungsjagd wird mit Büchsen geschossen — im Gegensatz dazu würde man bei einer echten Niederwildtreibjagd mit der Flinte arbeiten — die wird mit Schrot geladen; in der Büchse ist kein Schrot sondern ein zwei- bis fünfschüssiges Magazin.

Das Wild muss ansprechbar sein

Längst sind die Jäger an ihren Positionen angelangt. Jetzt heißt es: Jeder für sich und: Wohl denen, die sich warm angezogen haben. Das Ansitzen kann eine kühle und zugige Angelegenheit werden. Jetzt heißt es: Warten, warten und nochmals warten. Und was, wenn es dann im Gebüsch raschelt? Eines ist klar: Geschossen wird nicht einfach drauflos. Das Wild muss ‚ansprechbar‘ sein. Wer nicht genau sieht, was sich da bewegt, für den gilt: Hände weg von der Waffe. Auf ein Stücvk, das vor einer Dickung steht, wird natürlich auch nicht geschossen, denn: Niemand weiß, wer oder was dahinter ist.

An den Hut gesteckt

Hier und da knallt es jetzt im Wald, und in drei Stunden werden ein Hirsch, zwei Rehe, drei Überläufer sowie ein kapitaler Keiler zur Strecke gebracht. Danach werden die Jäger wieder ‚eingesammelt‘. Jeder füllt einen Meldebogen aus: Was ist gesehen worden? Und noch wichtiger: Ist eventuell ein Stück nur angeschossen worden. Für diesen Fall beginnt nach der Jagd die Nachsuche. Für die Jäger allerdings ist die Bewegungsjagd vorbei.  Die erfolgreichen Schützen bekommen vom Jagdleiter einen ‚Bruch‘ an den Hut gesteckt. Ehrung für die Jäger. Und das Wild? Auch das wird geehrt, denn jetzt wird die Strecke verblasen. Wieder rücken die Hornisten an. Sau ist tot. Drei, vier — dann wird das Signal geblasen. Hirsch ist tot. Drei, vier. Reh ist tot und so weiter. Die Strecke wird fotografiert, und abschließend ist Zeit für ausgiebige Diskussionen. Nein, mitschießen möchte ich nicht, aber die Hölle im Wald ist hier nicht zu erleben. Über dem Reichswald liegt wieder Stille — die Stille nach dem Schuss. Grausiges ist hier nicht passiert. Tiere sind gestorben. Ihr Fleisch wird verkauft. Die hier gestorben sind, waren zweifelsfrei keine leidgeprüften und zur Fleischproduktion medikamentierten Schnitzellieferanten. Was die Strecke des heutigen Tages angeht, hat die Tiere ein Schicksal ereilt, das von dem Menschen immer wieder als ‚Wunschtod‘ bezeichnet wird: Kurz und schmerzlos. Andreas und Simone Thoneick jedenfalls sind nicht zum Schuss gekommen. Gesehen haben sie was, aber, bald ist Weihnachten — da wird das Geld für Geschenke gebraucht und nicht für den kapitalen Hirsch. Schön für den Hirsch. Ärgerlich für die Thoneicks? Gar nicht.

Jägerhut