Schreibkraft
Heiner Frost

Die Sachlichkeit des Grauens

Wie unspektakulär doch das Grauen sein kann. Da hat ein Angeklagter schon seit seiner Jugend die Lust verspürt, irgendwann einmal jemanden zu töten.

Am Ende

Da hat er – Mitte 20 ist er – seinen Plan in die Tat umgesetzt und das Leben eines alten Mannes grausamgnadenlos beendet. Jetzt wird ihm der Prozess gemacht. Der, um den sich an fünf Verhandlungstagen alles drehen wird, sagt nichts. Nichts zur Person. Nichts zur Tat. Den Gerichtssaal hat der Angeklagte – nennen wir ihn Tim – betreten wie den Pranger. Alle haben sie auf ihn gewartet. Niemand bekommt sein Gesicht zu sehen. Ein Leitz-Ordner schützt ihn vor dem Standgericht der Objektive. Was er getan hat, kann nur erbarmungslos genannt werden und niemand muss Prophet sein, um ein Urteil zu ahnen, bei dem es am Ende einzig darum gehen wird, ob das Lebenslänglich mit einer besonderen Schwere der Schuld versehen wird.
Nach Verlesung der Anklage wird das Leben des schweigenden Angeklagten aus zweiter Hand vorbeigetragen. Der psychiatrische Gutachter muss eine verdunkelte Existenz beleuchten. Seine Verwandten, hat der Angeklagte dem Gutachter gesagt, seien alle Psychopaten oder Junkies. Das Elternhaus: Schwierig. Das Wort des Vaters: Gesetz. „Der hat mich nur geschlagen, wenn ich es verdient hatte.“ Mehr Vaterspuren gibt es nicht. Eine wirkmächtige Grundierung.
Als Jugendlicher hat der Angeklagte „Scheiße gebaut“. Zuhause musste er spuren – draußen hat er‘s rausgelassen. Die Familiengene: Verkorkst. Alle. Dachdecker hat der Angeklagte gelernt. Die schönste Zeit seines Lebens. Eine Verlobte hat es gegeben. Monate vor der Tat: Die Trennung.

Szenarien

Zum späteren Opfer hat es schon vor der Tat einen Kontakt gegeben, der sexueller Natur war, obwohl der Angeklagte sich nicht als schwul bezeichnet. Irgendwann brauchte er Geld (die Drogen). Er stellte Überlegungen an. Der Ex-Chef hätte es verdient. Nicht aber dessen Frau und KInder. Tim landet mit seinen Überlegungen bei Friedhelm, dem Opfer. Der könnte Geld haben. Tim bestellt einen Elektroschocker im Internet. Er entwickelt „Szenarien“ dessen, was passieren könnte. Der Tod ist eines der möglichen Szenarien. Friedhelm ist doch der einzige, mit dem es einen homoerotischen Kontakt gegeben hat. Der einzige Zeuge. Wenn Friedhelm verschwände, verschwände auch diese Spur. Friedhelm hat Tim hintergangen: Er hat sich jünger gemacht als er war. Immer wieder: Hassgefühle. Am Tag der Tat macht sich Tim nach Emmerich auf den Weg. Diesmal wird er Friedhelm besuchen. Der hat ein Haus in Elten. Tim kommt schnell zur Sache.
Mittels Faust- und Handkantenschlägen, Messerstichen und Schlägen mit einem Feuerlöscher gegen den Kopf soll er – ohne vorausgegangenen Streit – den Mann in dessen Wohnung getötet haben. Nach Entwendung von 350 Euro soll er schließlich zur Beseitigung von Spuren das ganze Haus unter Wasser gesetzt haben und sodann mit dem Taxi nach Kleve zurückgefahren sein. So klingt, was die Staatsanwaltschaft für gegeben hält.

Ich war derbe interessiert

Da sitzt man und nimmt zur Kenntnis. Nach dem Angriff mit dem Elektroschocker war Friedhelm nicht kampfunfähig. Er versuchte zu fliehen – war schon aus dem Haus. Ein Augenblick der Hoffnung: Tim erwischt Friedhelm – prügelt ihn ins Haus zurück, hinunter in den Keller, versucht ihn mit Messer zu töten, ihm die Kehle durchzuschneiden, es gelingt nicht. Dann greift Tim zum Feuerlöscher und zertrümmert den Schädel des Sterbenden. Ein Echo aus der Aussage des Sachverständigen hallt im Kopf: „Ich war derbe interessiert, wie es ist, einen umzubringen“, hat Tim gesagt. Trotzdem: Mann kann in eine solche Tat nicht folgen – kann den Ort des Hasses nicht finden. Wo wohnt das Unglück? Wo die Lust am Töten? Wie beschreibt man den Weg in einen solchen Strudel? Was, wenn der, der schweigend dasitzt, der eigene Sohne wäre? Was kann man denken? Kann ein Prozess Klarheiten bringen? Wo hört man auf mit der Frage nach der Schuld? Soll man überhaupt von Schuld sprechen? Wo hört man auf mit der Frage nach den Gründen? Ja – das ist besser. Es geht nicht um Schuld – es geht um Verstrickungen, um die Fallstricke des Lebens, das für den Täter Überleben ist und für sein Opfer der Tod.
Später am Tag spricht der Angeklagte. Er spricht indirekt. Mit Polizeibeamten ist er nach seinem Geständnis zum Tatort gefahren: Rekonstruktion ein unfassbaren Geschehens. Der Täter als Reiseführer. (Anwaltlichen Beistand scheint es für Tim übrigens weder beim Gestehen noch beim Rekonstruieren gegeben zu haben.) Ermittelt war der Täter – so wird es bei der Aussage des Leiters der Mordkommission deutlich – relativ schnell. Das Internet kennt viele Geschichten.

Wissenwollen

Vielleicht ist man lange nicht so ratlos gewesen. Vielleicht liegt genau hier das Problem.
Es gibt Verbrechen, die in ihrer Monstrosität schlafraubend sind. Das Monströse findet seinen Auslöser meistens in der Sinnlosigkeit – im Mangel an Erklärungen. Ein junger Mann ermordet einen alten Herrn. Um Geld soll es gegangen sein, aber auch darum, dass da jemand immer schon einmal wissen wollte, wie es ist, jemanden zu töten.
„Da sitzt einer, der ein Päckchen zu tragen hat“, sagt der psychiatrische Gutachter am Ende seines mehr als 90-minütigen Vortrags und man wird das Gefühl nicht los, dass da einer den Saal verlässt, dem klar geworden ist, dass das Maß des Outputs von der Menge des Inputs abhängig ist.
Auch der beste Psychiater braucht Anhaltspunkte – er braucht ein sprechendes Gegenüber. Nicht, dass der Angeklagte während der insgesamt zwölf Stunden dauernden „Untersuchung“ (es waren mehrere Termine) geschwiegen hätte. Ganz und gar nicht. Er hat bereitwillig auf die meisten Fragen geantwortet, hat die notwendigen Tests nicht verweigert oder abgelehnt, aber am Ende des Gutachtens bleibt der Eindruck, dass sich hinter viel fachlich ausgezeichneter Leinwand eine Grundierung verbirgt, zu der niemand vordringen kann. „Wir haben es hier mit einer sehr komplexen Persönlichkeit zu tun“ – so leitet der Gutachter eine Folge von Widersprüchen ein, auf die er immer wieder hinweist. Da ist ein leicht erregbarer Mensch mit hoher Aggressivität, der aber auch angibt, unsicher zu sein, wenn er einen Raum betritt, in dem sich viele unbekannte Menschen befinden. Da ist einer, der Homosexualität irgendwie ablehnt und doch mit seinem späteren Opfer sexuellen Kontakt hatte – ein Mal nur. Da ist einer, der mit dem Auslöschen eines Lebens vielleicht auch eine Zeugenschaft ausgelöscht hat. Nichts ließe sich nachweisen – aber ein Gericht braucht Beweise. Es mangelt nicht an Beweisen, dass der Angeklagte getan hat, was ihm vorgeworfen wird – er hat es ja in der Tatrekonstruktion des ersten Tages „nachgespielt“. Der Verstand ist auf der Suche nach Verkettung: Hier ist ist Ursache, dort die Wirkung. Hier das Motiv – dort die Tat. Gutachten sollen Wegweiser sein. Am Ende des dritten Verhandlungstages scheint klar: Der die Tat beging, war alles andere als unzurechnungsfähig. Das Gesetz nutzt andere Formulierungen. Der die Tat beging, war in seiner Steuerungsfähigkeit nicht eingeschränkt. Er hat nicht im Rausch gehandelt und war nicht getrieben von einer seelischen Abartigkeit. Ihm kann, sagt der Gutachter, mit einem Maßregelvollzug nicht geholfen werden. Und Therapie? Es müsste etwas zu therapieren geben. Es müsste Ausfälle im Betriebssystem Mensch geben, aber da ist nur dieses „Päckchen“, dessen Inhalt niemand kennt. Der Angeklagte mag wissen – selbst das ist unklar – was da durch seine Seele spukt. Er hat in Siegburg gesessen – als Jugendlicher. Er hat gesagt, Siegburg sei die Hölle gewesen. Was aber in der Hölle passiert ist, hat er nicht gesagt. Eine Hölle ist nicht einfach eine Hölle. So viel ist klar. Es braucht das Höllenpersonal.

Überlegungen

Zurück zu der grausigen Tat: Natürlich stand für den Angeklagten schon zum Zeitpunkt der Tat fest, dass – so banal es klingen mag – das, was er tat, Unrecht war. Er hat vor, während und nach der Tat, Überlegungen angestellt – hat Ursachen und Wirkungen verstanden. Aber niemand weiß, ob es auf dem Grund seines Handelns diesen einen Auslöser gegeben hat. „Irgendwas trägt er mit sich, aber wir wissen nicht, was es ist“, hat der Gutachter gesagt. Dieser Täter: ein atmender Widerspruch. Er hat, erfuhr man am zweiten Verhandlungstag, einen Brief an den Adoptivsohn des Opfers geschrieben – versehen mit dessen Adresse. „Ich finde es ungeheuerlich, dass im Zeitalter geschützter Daten so etwas möglich ist – es kann doch nicht sein, dass der [Täter] mir einen Brief schreibt, auf dem meine Adresse steht“, so der sichtlich aufgebrachte Adoptivsohn.
Am dritten Verhandlungstag übergibt der Vertreter der Nebenklage dem Gericht eben diesen Brief. Er wird verlesen. Einen Satz kann man sich merken: „Ich werde Sie keinesfalls um Vergebung oder Verständnis bitten, weil ich das nicht verdient habe“, hat der Täter geschrieben und schreibt auch, dass es für die Angehörigen vielleicht eine Genugtuung sei, zu wissen, dass er auf lange Zeit ins Gefängnis müsse.
Wieder einmal endet ein Verhandlungstag, an dem man sprachlos und fast betäubt auf dem Gang steht und nach Erklärungen sucht. Entschuldigungen kann es nicht geben, aber Anhaltspunkte vielleicht.

Schuldadressen

Gutachtenschwaden nisten sich ein: „Da ist einer, der Schuld externalisiert“, hat es im Gutachten geheißen. Fehler, so könnte man es sagen, haben für diesen Täter immer einen anderen Absender. Es ist nicht er – es sind die anderen (Oma, Vater), es sind die Umstände.
Er will, hat der Täter seinem Gutachter gesagt, Verantwortung übernehmen, aber wofür soll einer Verantwortung übernehmen, wenn die Schuld anderswo zuhause ist? Immer wieder spürt man diese Wand des Verbergens – das „Päckchen“.
Auf dem Gang sagt jemand, „der Typ hat irgendwie traurige Augen“. Welch eine Boulevard-Überschrift man bauen könnte vom Monster mit dem traurigen Blick … … und dann denkt man wieder an all die, deren Leben auf einen Streich mit zerstört worden sind: Die Familie des Opfers, die Bekannten, aber eben auch die Familie des Täters. Berichterstattung soll sich auf keines Menschen Seite stellen. Also heißt es, alles von allen Seiten zu sehen. Während man ins Auto steigt, hallt der Gutachtersatz durchs Gehirn: „Irgendwas trägt der mit sich, aber wir wissen nicht, was es ist.“ Vielleicht ist man nicht allein betroffen von der Ratlosigkeit.

There’s this boy I sent to the electric chair at Huntsville here a while back. My arrest and my testimony. He killed a fourteen year old girl. Paper said it was a crime of passion, but he told me there wasn’t any passion to it. Told me he had been plannin‘ to kill somebody for about as long as he could remember. Said if they turned him out he’d do it again. Said he knew he was going to hell. [Cormac McCarthy: No Country for old Men]