Schreibkraft
Heiner Frost

Der Letzte macht das Licht aus

Vielleicht muss einer nicht mal Fußball können, um etwas zu finden, das ihn mitreißt, damit er mitreist. Die Bilder haben lange geschlafen. Gemacht waren sie, aber nicht gesichtet.Der Schlaf hat ihnen nichts anhaben können. Ganz im Gegenteil: Bald ist es zehn Jahre her, dass Publikum und Spieler zum letzten Mal das Stadion verließen. Der Letzte macht das Licht aus. Gute Bilder sind wie eine gute Geige: Mit der Zeit klingen sie besser.

Trauschein

FaktenWas sind schon Fakten? Vielleicht das: 34. Spieltag, Anstoß: Samstag, 22.Mai 2004, Bökelbergstadion Mönchengladbach; Borussia Mönchengladbach– TSV 1860 München 3:1 (2:1), 34.500 Zuschauer ausverkauft; Schiedsrichter: Herbert Fandel.

Fußball ist mehr als Fakten, so, wie eine Ehe mehr ist als der Trauschein. Liebe spielt sich woanders ab. Fußball auch. Manche sagen: Fußball ist aufdem Rasen. Falsch: Fußball ist im Herzen. Früher jedenfalls – bevor sie die Stadien zu Konsumtempeln gemacht haben, in denen das Geld die Welt regiert. Der wahre Fußball hat etwas mit Bindung zu tun.

Letzter Spieltag Bökelberg

Zurück zum 22.Mai des Jahres 2004. Im Spielbericht finden sich Fakten. Der Spielbericht erzählt nichts vom Abgesang auf eine Ära. Der Spielbericht ist tränenfrei. Emotionslos.Es geht um Sachlichkeit. Dass für echte Gladbach-Fans der 22. Mai 2004 ein geschichtliches Datum ist wie für andere das Jahr 1492, die Französische Revolution, Issos Keilerei oder der deutsche Fußballsieg bei der WM in Bern– darüber muss ein Spielbericht keine Auskunft geben. Wär’s ein Quiz, würde man jetzt „Weiter“ sagen. Vielleicht aber tut es ein Buch: „Letzter Spieltag Bökelberg“ heißt es. Es ist ein Bilderbuch. Nicht ganz: Texte finden sich auch, aber sie sind vielleicht nicht mehr als eine Umgarnung des Gesehenen.

„Weiter!“

Christoph Buckstegen sitzt am Tisch: Buchvorstellung. Aber was soll ein Fotograf schon tun? Was er zu sagen hätte, hat er fotografiert. Er ist kein Schreiber. Will keiner sein. Aber vielleicht erwarten Buchkäufer auch Buchstaben.Weiß man‘s? Buckstegen beugt sich den Fragen. „Ist das ein Fußballbuch?“ Wär‘s ein Quiz, würde man „weiter“ sagen. Buckstegens Buch muss in keine Schublade. Natürlich ist „Letzter Spieltag Bökelberg“ ein Fußballbuch. Natürlich finden Spiele auf dem Platz statt. Und trotzdem ist Fußball eben mehr als das. Wenn einer wie Buckstegen den Hintergrund ins Bild rückt, dann findet eben da der Blick in die Seele statt, aber der Fotograf hat sich spezielle Seelen ausgesucht.

Natürlich ist„Letzter Spieltag Bökelberg“ nicht unbedingt das Weihnachtsgeschenk für einen St. Pauli-Fan. Buckstegens Bilder sind ein Blick hinter den Vorhang. Wenn man Außerirdischen die Fußballseele erklären müsste, könnte ein Buckstegen-Bild dabei sein. „Fußball ist Vergangenheit“, sagt er. Und meint: Einer wie er ist als Kind fußballerisch sozialisiert worden. Buckstegen hat Fußball in Mönchengladbach gelernt. 70 Prozent Stehplätze. Wenig Dach. Viel Zug. Und: Viel Leben. Viel Echtigkeit. Klar: Auch damals war die Welt nicht in Ordung. Aber sie war anders nicht in Ordnung.

Foto: Christoph Buckstegen

Wehmut – ahnunglos

Wenn einer wie Buckstegen sagt „Fußball ist Vergangenheit“, dann schwingt Wehmut mit. Es schwingt eine Erinnerung mit, in der sich ein zugiger Stehplatz wirklicher anfühlt, als die VIP-Lounge der heutigen Tage. Heute haben Stadien Sponsorennamen.

Buckstegens „Letzter Spieltag Bökelberg“ ist eine Art „Graphic Novel“ – ein Roman aus Bildern. Alles, was man sieht, ist an eben jenem Tag im Mai 2004 entstanden, den der Spielbericht „ahnungslos“ zusammenfasst. Auch ein Interview mit einem der Großen aus den Fohlenzeiten ist abgedruckt: Net-zer spricht. Schön, aber eigentlich gar nicht notwendig. Nur, weil einer keineWorte hat – gemeint ist der Fotograf – braucht es längst kein Starthilfekabel aus Buchstabenketten. Was soll man sagen? Natürlich stört der Text nicht, aber was Buckstegen gesehen und mit der analogen Halbformatkamera festgehalten hat, ist wortlos wertvoll, weil es vom genauen Blick lebt: Vom Hinsehen. Vom Hinfühlen. Die Texte wirken ein bisschen wie die Analyse nach einem Spiel: Eigentlich hatte man‘s doch gesehen, aber jetzt kommen sie und erklären es einem trotzdem. Vielleicht hatte man‘s ja am Ende doch falsch verstanden. Buckstegens Bilder brauchen keine Wörter. Sie brauchen ein Herz, das ihnen nachfühlt. Der Letzte macht das Licht ausVielleicht muss einer nicht mal Fußball können, um etwas zu finden, dasihn mitreißt, damit er mitreist.

Lange geschlafen

Die Bilder haben lange geschlafen. Gemacht waren sie, aber nicht gesichtet. Der Schlaf hat ihnen nichts anhaben können. Ganz im Gegenteil: Bald ist es zehn Jahre her, dass Publikum und Spieler zum letzten Mal das Stadion verließen. Der Letzte macht das Licht aus. Gute Bilder sind wie eine gute Geige: Mit der Zeit klingen sie besser. Buckstegen ist einer, der viel zu sagen hat – das sieht man. Es gibt nichts zu Hören. Nichts zu Lesen. Falsch: Geräusche stellen sich doch ein, wenn man das Bilderbuch durchstöbert. Man hört das Stadion und ganz am Schluss das Fallen eines Schweißtropfens – ganz leise fällt er. Man lauscht ihm hinterher und merkt erst viel später, dass es eine Träne war. Gibt es Fakten? Ja. Format: 17 mal 22 Zentimeter. Festeinband mit Faden-heftung. 144 Seiten. 65 Fotografien. ISBN 978-3-95680-007-8. Preis: 19,80.Gibt es eine Empfehlung: Klar. Drei Ausrufzeichen.

Foto: Christoph Buckstegen

Christoph Buckstegen