Schreibkraft
Heiner Frost

davonzuschweben – ein Nachgesang

Schade. Jetzt kann man’s nicht mehr sehen. Nicht auf der Bühne jedenfalls. Der letzte Vorhang ist gefallen. Aber eines kann man: Sich erinnern. Wenn man die Geister des Erinnerns ruft, ist nicht immer alles nur wohlig. Manchmal aber wird Rückschau zum Hochgefühl. „Über Stock und Schein“ war ein Ereignis. Das Leben in 70 Minuten – vorgeführt von 24 Entfesselten, die man am Ende einzeln umarmen müsste.

Es lässt sich, was man erlebt hat, nicht nacherzählen. Nacherzählung ist oft genug nicht weniger als Vernichtung. Was hat man gesehen? Ballett? Nein. Theater? Nein. Tanztheater? Ja. Vielleicht. Eine großartige Umschreibung von Licht und Schatten des Menschseins? Ja. Gab es Requisiten? Dachlatten und weiße Tücher. Musik und Licht. (With light it‘s magic – Without it‘s tragic.) Die Musik: Eine Melange aus Dvorak und Jetzigem. Auch ein Messiaen taucht im Soundtrack auf. Dazu: Akteure, die irgendwie in allem zuhause sind, denn sie spielen nicht nur und tanzen – sie singen auch. „Über Stock und Schein“ ist ein Prozess – einer, der allerdings nicht mit einem klar definierten Anfang oder Ende daherkommt. Die Szenen des Stückes könnte man auch anders ineinanderstecken. Das jedoch ist kein Beweis für Beliebigkeit. Auch, was im Leben passiert, folgt nicht den Gesetzen der Dramaturgie. Die Reihenfolge ist einzig der Zeit geschuldet. Man kann Geschichten auch anders als chronologisch erzählen. Eben das tut „Über Stock und Schein“. Und während man so denkt, stellt man fest: Da war keine Geschichte. Das Stück umschreibt Begebenheiten, menschliche Urzustände. Es thematisiert die Ko-Existenz und das, was aus ihr erwachsen kann. Das klingt so einfach und ist es gar nicht, denn für alles, was auf einer Bühne passiert, müssen Bilder gefunden werden. Symbole. Lebensstellvertreter. Das Leben in Bewegung zu übersetzen – in schlüssige Bilder, die sich ins Herz graben – erfordert viel Erfahrung beim Synchronisieren sowie beim Gebrauch und bei der Auswahl der Mittel. Es geht um den wohldosierten Umgang mit den Vokabeln. „Über Stock und Schein“ ist ein Ensemblestück – eine Etude des Zusammenwuchses. Was man braucht, ist ein ordnendes Auge, das sich auskennt mit den Möglichkeiten der Compagnie. Eines, das in der Lage ist, aus dem Vorhandenen das Zwingende zu formen.

Foto: theater total

Hypnose

Dass dieses Stück das Ergebnis der Arbeit von und mit Jugendlichen ist, die sich gerade zwei Monate kennen und vorher nie zusammen gearbeitet, getanzt, gelebt und gefühlt haben – eigentlich möchte man es nicht schreiben, denn es wirkt allzu schnell wie ein Abstrich – wie der Versuch einer Erklärung von Schwachstellen. Wahr ist: „Über Stock und Schein“ war eine Arbeit, die sich mit allem vergleichen lässt, was auf Tanzbühnen vor sich geht. Man steht nach der Aufführung wie hypnotisiert im Leben, denn was hier Tanz geworden ist und Theater, ist großes Kino – ganz großes Kino. Nichts an dieser Lebenszusammenfassung kommt mit dem Zeigefinger daher, und selbst nach dem vierten Besuch der Vorstellung bleibt das Wunderbare erhalten. Daran erkennt man die große Kunst: Sie lässt sich nicht in Stücke sehen. Sie geht nicht zu Bruch. Sie schafft jedes Mal wieder den Weg in die Seele des Betrachters und während man noch darüber nachdenkt, wie das funktionieren kann, ist man längst schon wieder überrumpelt. Dass ein paar vermeintliche Nichtigkeiten (Tücher, Dachlatten) so viel Projektionsfläche bieten, hatte man sich nicht träumen lassen. Dass sich in Sekundenschnelle Häuser, Wellen, Boote nur mit ein paar skizzenhaft wirkenden Bewegungen zu Wirklichkeit machen lassen, ist Teil des Wunders, das man Theater nennt. Mit der Musik, dem Licht und Requisiten ist es wie mit der Truppe: Erst in der Gesamtwahrnehmung ergibt sich eine Strahlkraft, die dem Einzelwesen oft abgeht. Was „Über Stock und Schein“ zum Ereignis macht, ist die Gewissheit, dass Großes aus dem Zusammen entsteht. Böses auch. Man kann das Gute nur erkennen, wenn man die Gegenwart des Bösen akzeptiert. Kein Schwarz ohne Weiß. Kein Laut ohne das Leise.

Foto: theater total

Übersetzung

Was beim Schreiben akademisch klingt, wird in der Übersetzung auf der Bühne zum Wunderwerk, dem man sprach- aber nicht gedanken- oder gefühlslos in den Spiegel des eigenen Lebens folgt. Was da unten getanzt wird, erreicht eben deshalb die Adressaten, weil sie sich wiederfinden – weil sie Bewegungen und Töne ins eigene Leben decodieren können. Das zu erreichen, gelingt nicht oft, denn das Funktionieren ist dem überragenden Zusammenwirken ausgeliefert. Eben das findet hier statt. Niemand, der nicht bis in die letzte Faser angespannt ist. Das Wollen ist allen anzuspüren. Die da tanzen, sind kein alteingesessenes Ensemble, aber sie überzeugen durch ihre Bedingungslosigkeit – sie werfen ihr Leben in die Waagschale. Man kann nicht mehr verlangen. Man kann nicht mehr geschenkt bekommen, als nach dem Schlussapplaus ins Normale zurückzuschweben. Man hat das eigene Leben gesehen. Das Großartige speist sich auch aus der Tatsache, dass niemand Lösungen anbietet. Man kann das Leben auf die Bühne bringen. Man kann es inszenieren. Man kann es im Licht und im Schatten vorführen, aber man kann niemals Lösungen anbieten. Das hat nie funktioniert und ist schlechten Filmen vorbehalten, die mit einem Happy-End den Graben zwischen Kino und Wirklichkeit tiefer ausheben. Ein Stück wie „Über Stock und Schein“ hebt keine Gräben aus. Es macht sensibel für die Kleinigkeiten, zeigt, wie kleine Gesten Krieg und Frieden auslösen. Es zeigt Verwundungen und hat auch gleich das Pflaster dabei. Man muss dieses Stück auf die innere Festplatte brennen. Es bleibt abrufbar – ohne sich dabei zum Knecht zu machen. Man muss sich in diese Bilder knien, wenn man sie wachrufen, zurückrufen möchte. Ohne das eigene Mitfühlen bleibt nichts zurück, das sich verwerten ließe. Seelenarbeit ist Mitarbeit. Mitarbeit ist Zusammenarbeit. Man wünschte sich das Stück auf Tournee. Theater funktioniert nicht als Konserve. Es braucht lebende Seelen, die nicht gepolstert sind. Die sich stellen wollen. Das, was man in die eigene Seele zu retten imstande ist, sind am Ende Fragmente, Gesichter – Fetzen. Sie leuchten ins eigene Leben. Man zieht den Hut und verbeugt sich. Tief.

Das Ensemble

Joshua Bader, Elena Beringer, Valentin Brenner, Julika Frieß, Lena Frost, Ole Gärtner, Katharine Fröhlich, Leander Glaw, Henrik Jan Hegenberg, Marie Herholz, Felix Kainzbauer, Julia Menk, Evalotte Pietsch, David Röhring, Tanina Scharnow, Laura Schulze, Marie Schumacher, Laurin Schürer, Michael Dario Schütz Pallavicini, Olivia Stauffer, Jørn Stocker, Julian Theyssen, Magdalena Thomas, Jonathan Wiese

Musik: Anton Dvorak, Olivier Messiaen, Florian Paul, Lukas Schwermann

Kostüme: Lena Martin

Tanz: Carlos Sampaio, Christel Guillebeaud, Chun-Hsien Wu

Volkstanz: Gergana Panova-Tekath

Technik: Aurel Walker

Regie: Barbara Wollrath-Kramer

Informationen über Theater Total:

http://www.theatertotal.de/

Foto: theater total