Schreibkraft
Heiner Frost

Das Messer im Rücken

Manege
Normalerweise – denkt man – werden Messer im Zirkus geworfen. Der das Messer wirft, will niemanden treffen. Es ist Teil des Kunststücks, das vermeintliche Ziel zu verfehlen. Wenn einer in der rauen Lebenswirklichkeit zum Messer greift und den Rücken des Bruders trifft, geht es vor Gericht um Körperverletzung. Mindestens.
„Strafverhandlung gegen einen 35-Jährigen aus Emmerich wegen gefährlicher Körperverletzung. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, am 5. August 2012 in Emmerich im Rahmen einer Auseinandersetzung ein Messer aus dem ersten Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses nach seinem sich vor dem Haus aufhaltendem Bruder geworfen und diesen mittig im Rücken getroffen zu haben. Hierdurch soll der Bruder eine stark blutende Stichverletzung erlitten haben. Der Angeklagte hat im Ermittlungsverfahren von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Zur Hauptverhandlung sind sechs Zeugen geladen.“
Gleich zu Beginn der Verhandlung macht der Vorsitzende Richter klar, dass auch ein versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Betracht kommt. Der Angeklagte ist auf freiem Fuß. Ja, er wird Angaben machen. Zur Person. Und zum Tathergang. Seit 1984 lebt der Kurde, der in der Türkei geboren ist, in Deutschland. Er hat acht Geschwister. Der Vater: Früh gestorben. Der Angeklagte war schon in Kontakt mit der Justiz. „Wurden Sie schon einmal bestraft?“, fragt der Vorsitzende Richter. „Ja.“ Eine Körperverletzung hat es gegeben. „Das ist 16 Jahre her.“ Zwei Fälle von schwerem Diebstahl, Fahren ohne Fahrerlaubnis. Vier Monate Gefängnis wurden verbüßt. Seit 2006 gibt es keine Einträge mehr. „Da habe ich geheiratet.“ Ein Jahr später: Geburt der Tochter.

Schickeria
Die Akustik von Saal A 105 lässt zu wünschen übrig. Wenn einer nicht laut und deutlich spricht, entstehen Missverständnisse. „Wo arbeiten Sie derzeit?“, fragt der Richter den Angeklagten und versteht als Antwort: „Bei C&A.“ Tatsächlich hat der Angeklagte von „T&A“ gesprochen. Kleidung das eine, Paletten das andere.
Nach dem Tatabend gefragt, beschreibt der Angeklagte, er sei zusammen mit seinem Bruder in der „Schickeria“ gewesen. Der habe Leute angepöbelt. Er habe den Bruder zurechtgewiesen und dabei wohl auch beleidigt. Das Ergebnis: Ein erster Streit. Mit gezogenem Messer verfolgt das spätere Opfer den Bruder durch die Stadt. Der findet in einem Hauseingang eine Eisenstange und droht zurück. Noch ist nicht wirklich etwas passiert. „Aber“, sagt der Angeklagte, „ich habe meinen Bruder beleidigt und der war richtig sauer.“
Die Jagd durch die Stadt – sie hat gegen 1 Uhr morgens stattgefunden. Danach ist der Angeklagte mit seinem älteren Bruder zu einem Parkplatz gefahren. Kriegsrat. Der ältere Bruder empfiehlt: Der Streit muss aus der Welt. Das spätere Opfer wohnt bei der Mutter. Man beschließt, eben dorthin zu gehen und zu reden. Die beiden machen sich – es muss gegen 5 Uhr morgens sein – auf den Weg zur ‘s-Heerenberger Straße. Die geplante Versöhnung wird zur Fortsetzung des Streits. Das spätere Opfer verlässt die Wohnung, geht nach unten und macht sich am Auto des Angeklagten zu schaffen. Die Heckscheibe geht zu Bruch. „Er hat mein Auto kaputt gemacht. Da war ich natürlich sauer“, sagt der Angeklagte. Aus dem Klofenster der ersten Etage sieht er den Bruder wieder zum Haus gehen, holt sich ein Messer und wirft es von oben in Richtung des Bruders. „Ich wollte den nur erschrecken. Ich wollte den nicht treffen“, sagt er. Aber: Er trifft. „Mittig in den Rücken“, heißt es in der Anklage. Das Messer sei nicht steckengeblieben, sagt der Angeklagte, der von seinem älteren Bruder den Rat erhält, erst einmal nachhause zu gehen.

Das Messer
Polizei und Rettungswagen werden gerufen. Zuerst treffen zwei Polizeibeamte am Tatort ein. Da ist der Angeklagte schon nicht mehr da. Das Opfer will – schon damals – keine Aussage machen, wartet auf den Rettungswagen, klettert selbst hinein und wird zum Krankenhaus gefahren.
Die Beamten finden im Kellerabgang des Hauses ein Messer – vermutlich die Tatwaffe. Das Messer wird aserviert. Später übergeben die beiden Beamten an die mittlerweile eingerückte K(riminal)-Wache. All das ist lange her. Die Tat geschah im August 2012. Die beiden Beamten erinnern sich nicht an Kleinigkeiten – mussten sich „den Vorgang“ erst mittels Aktennotizen wieder ins Gedächtnis rufen. „Nein, Kampfspuren hat es nicht gegeben“, sagt der eine auf Nachfrage des Richters. „Glasscherben? Ich kann mich nicht erinnern“, sagt der andere, als der Richter sich fragend auf die Suche nach einer zertrümmerten Heckscheibe macht. Zwei Brüder des Angeklagten, das Opfer und der ältere Bruder, machen von ihrem Recht Gebrauch, keine Aussage machen zu müssen. Und das Messer? Es ist irgendwie verschwunden. Einzig ein Foto existiert. Vom ersten Verhandlungstag bleibt die Aussage des Angeklagten. Es bleiben zwei Polizeibeamten, die sich an wenig erinnern. Es bleiben zwei Brüder, die keine Aussage machen. Die Tatwaffe ist verschwunden. Zwei weitere Zeugen werden am kommenden Mittwoch vernommen. Danach: Das Urteil. „Wie ist heute Ihr Verhältnis zu Ihrem Bruder?“, fragt der Richter den Angeklagten. „Wir haben uns vertragen. Alles ganz normal.“

Vermisst
Was sind schon Überraschungen? Plötzlich kommt einer, der am ersten Verhandlungstag von seinem Recht Gebrauch machte, nicht aussagen zu müssen, und möchte nun doch reden – muss reden.
Zuerst einmal fehlt der Staatsanwalt. Der Prozess wurde in einen anderen Saal verlegt. Es ist viel los im Gericht. (Die Parallelität der Ereignisse.) Die Kammer tritt ein. Der Staatsanwalt ist abhanden gekommen. „Den hab‘ ich doch gerade noch draußen gesehen“, sagt der Vorsitzende Richter. Der Verteidiger macht sich auf die Suche und kommt kurze Zeit später mit Staatsanwalt zurück. Es kann losgehen.
Der zweite Verhandlungstag beginnt mit der Aussage des Bruders, der noch am ersten Verhandlungstag von seinem Recht Gebrauch gemacht hatte, als Bruder des Angeklagten nicht aussagen zu müssen. Der eine Bruder: Angeklagter Täter – der andere Opfer und Zeuge. Das Opfer will jetzt aussagen. Die Aussage wird zum Ausbruch. Was der Angeklagte und sein Anwalt zu den Abläufen am Tattag gesagt haben: Nicht hinnehmbar. Der Zeuge: Unter Strom. Alles muss raus. Jetzt! Der Richter hat Mühe, die Temperamente zu zügeln. Zweimal belehrt er den Zeugen. („Sie müssen hier gar nichts sagen, aber wenn Sie sich zu einer Aussage entschließen, muss es auch die Wahrheit sein.“)

Chronologien
Ein Gericht wünscht sich Chronologien. Ein Vulkan denkt nicht. Er bricht aus. Alles explodiert von tief unten ans Tageslicht. Es gibt keine Chronologie. „Lassen Sie uns den Tattag durchgehen“, bittet der Richter. „Das steht alles auf ihrem Blatt“, sagt der Zeuge und meint, dass er doch vor drei Jahren eine Aussage gemacht hat. „Vor Gericht ist entscheidend, was gesagt wird.“ Ein Richter als Schlichter. Der Abend: Ja, beide Brüder waren gleichzeitig in der Diskothek. Ob sie zusammen hingingen, kann der Zeuge (das Opfer also) nicht mehr sagen. „Das ist drei Jahre her. Ich will hier nichts Falsches sagen.“ Eigentlich müssten alle Sätze des Zeugen in drei Rufzeichen münden. Die Sätze sind von einer spürbaren Dringlichkeit umgeben. Der Angeklagte hatte ausgesagt, sein betrunkener Bruder (das Opfer, der Zeuge) habe in angetrunkenem Zustand Leute angepöbelt. „Da habe ich ihn zurechtgewiesen und dabei auch beleidigt“, hat der Angeklagte am ersten Verhandlungstag gesagt. Das Opfer erzählt eine andere Geschichte. Nein, er hat niemanden angepöbelt. In der Diskothek hat es einen Streit gegeben. Nichts, womit er oder sein Bruder zu tun gehabt hätten. Er (der Zeuge) ist irgendwann gegangen und hat draußen einen anderen Streit gesehen und zu schlichten versucht. „Das waren Kollegen von mir.“ Es kommt zu Beschimpfungen. Einer der Streithähne ruft den Bruder des Opfers. Jetzt erst taucht der Angeklagte in der Geschichte des Opfers auf. Der Angeklagte trifft ein und weist den Bruder zurecht. Aus dem Streit der anderen wird ein Streit der Brüder. Unschöne Szenen spielen sich ab. Unschöne Dinge werden gesagt. („Ich verkaufe deine Tochter und schicke sie auf den Strich.“) Steine fliegen. Sie werden vom Angeklagten geworfen. Das Opfer flieht. Wie in einem Horrorfilm habe er sich gefühlt und sei um sein Leben gelaufen.

!!!
Dann ein zweites Zusammentreffen. (All das spielt sich in einem Zeitfenster von vielleicht fünf oder sechs Stunden ab.) Wieder herrscht eine extrem gereizte Stimmung. Ein Familiendrama am Kraterrand. Es ist der Krater eines Vulkans. Das Opfer spricht von seinem Bruder in der dritten Person. („…dieser feine Herr…!!!“) Nie hat sich der Angeklagte beim ihm gemeldet. Drei Jahre nicht. Erst jetzt – kurz vor der Verhandlung: Eine Entschuldigung. Ein Anruf des Anwalts bei der Mutter. Versuchter Druck. („So was macht man nicht!!!“) Das zweite Treffen: In der Nähe einer Baustelle. Der Angeklagte will wieder auf das Opfer los. Mit einem Baustellenschild. Wieder der Kraterrand. Es findet ein drittes Aufeinandertreffen statt. Jetzt soll Schlichtung erfolgen, aber dazu kommt es nicht. Im Haus, in dem die Mutter wohnt, treffen die beiden ein letztes Mal aufeinander – von Verwandtschaft umstanden. „Da steht der feine Herr mit einer Eisenstange und einem Messer!!!“ Der Bruder (das Opfer) sagt: „Lass uns nach draußen gehen und die Sache unter Männern klären.“ Er geht vors Haus. Beobachtet die Tür. Will sehen, ob sein Bruder kommt. Ob er bewaffnet ist. Dann spürt er einen Schmerz im Rücken: Das Messer. Am ersten Verhandlungstag hatte der Angeklagte gesagt: „Der hat unten die Scheibe von meinem Auto kaputt gemacht. Da war ich natürlich sauer.“ Jetzt also eine andere Version: Der vom Messer getroffene Bruder taumelt in den Hauseingang. Später wieder nach draußen. Er hat Schmerzen. Er trommelt die Schmerzen auf eine Scheibe. Es ist die Heckscheibe eines Autos. Es ist das Auto des Angeklagten. („Das hätte irgendein Auto sein können oder eine Mauer!!!“) Die Scheibe geht zu Bruch. (Nach dem Messerwurf.)
Das Gericht bohrt in die Aussagen. „Wie haben Sie gestanden, als sie vom Messer getroffen wurden?“ „Erklären Sie das noch einmal der Reihe nach.“ Kontrollierte Offensive im Angesicht der Eruption. Der Zeuge am Rande der Beherrschung.

Du A…
Immer wieder wird Ratlosigkeit spürbar. Es ist das anscheinende Missverhältnis zwischen Auslöser und Ausmaß, Ursache und Wirkung. Brüder streiten sich. Man kennt das. Dass ein Streit mit Messerwerfen endet, braucht Vorgeschichten. Denkt man. Kein Beben ohne Vorbeben. Denkt man. Und das Nachbeben? Es findet statt: Jetzt und hier. Menschen brauchen Geschichten. Geschichten stellen Verständnis her. Und Zusammenhänge. Jemand tut etwas. Es muss einen Grund geben. Glaubt man. Für den Zeugen ist es wichtig, dass er seine Geschichte erzählt. Sie sollen ihn hören. Ihm zuhören. Ihn anhören. Aber jetzt gibt es zwei Wahrheiten. Später fragt der Richter: „Warum ist Ihr Bruder so ausgerastet?“ „Das müssen Sie mich nicht fragen!!! Ich krieg das nicht in meinen Kopf!!!“
Es geht darum, was eigentlich ein Streit ist. Richter: Wenn jemand zu seinem Bruder sagt ‚Du A…‘(der Rest des Wortes findet pantomimisch statt), dann ist das für mich ein Streit“, sagt der Richter. „Die Aussage, die von dieser Seite gekommen ist (der Zeuge zeigt auf den Angeklagten) ist nicht richtig!!!“ „Haben Sie sich denn nachher ausgesprochen?“, fragt der Richter. „Nein!!! Da ist nichts gekommen.“ Der Zeuge sagt, was nicht passieren soll: „Ich will nicht, dass der einfährt!!!“ Der – das ist sein Bruder. Der Angeklagte. „Der muss nicht ins Gefängnis. Das will ich nicht. Aber der soll das bereuen. Für mich ist die Sache erledigt!!!“

Versöhnung
Dann steht der Angeklagte auf. Er entschuldigt sich beim Bruder. Eine klobige Umarmung findet statt. Sie zögern sich aufeinander zu. Ein Lichtblick. Irgendwie hat man des Gefühl, die letzten 20 Minuten haben sich in einer Sekunde abgespielt. Der Ausbruch ist beendet. Die beiden verströmen keine Herzlichkeit. Trotzdem: Ein Signal. Vorher hatte der Zeuge gesagt: „Ich werde das in zehn Jahren nicht verstehen, warum der das gemacht hat!!!“
Zwei weitere Zeugen sagen aus. Eine Richterin, ein Polizeihauptkommissar. Neues gibt es nicht. Die Verteidigung bittet um die Verlesung des ärztlichen Gutachtens am Tattag. Drei Richter versuchen sich an der Übersetzung von nahezu Unleserlichem. Lateinische Begriffe tauchen auf. „Und das könnte Pneumothorax heißen. Was meinen Sie?“Dann die Plädoyers. Für den Staatsanwalt geht es um die Frage, ob es einen Tötungsvorsatz gegeben hat. Die Antwort: Es gab eine hohe Gefährlichkeit, „aber wir können nicht sicher sein, ob der Angeklagte in Tötungsabsicht gehandelt hat.“ Die Absicht zu verletzen hat es gegeben. Es hat eine lebensgefährdende Körperverletzung stattgefunden. Das Strafzeitfenster öffnet sich bei sechs Monaten und schließt sich bei zehn Jahren. Der Staatsanwalt sieht einen Fall mittlerer Schwere. Er fordert drei Jahre Haft und die Auferlegung der Kosten. Die Verteidigung plädiert für ein mildes Strafmaß im Ermessen des Gerichts. Der Angeklagte würde gern rückgängig machen, was da passiert ist. Es tut ihm leid. Die Kammer verurteilt den Angeklagten zu zwei Jahren auf Bewährung. „Das hätte auch ganz anders ausgehen können.“ (Pneumothorax.) Die Bewährungszeit dauert drei Jahre. 1.500 Euro sind in Raten an den Weißen Ring zu zahlen. Über den Familienfrieden kann all das nichts aussagen. Frieden gehört nicht in die Zuständigkeit des Gerichts. Das Gericht arbeitet für das Recht. Frieden entsteht in der Seele. Justiz stiftet Befriedung. Vielleicht. Versöhnung findet nicht per Urteil statt. Eigentlich geht es ja auch um Verbrüderung. Man wünscht sich zwei Brüder, die den Weg zurück ins Brüderliche finden. Irgendwie …

Nachtrag: Und das Messer? Es ist nach wie vor verschwunden. Genauer gesagt sprechen die Akten von einer Herausgabe der Aservate. Das sagte auch der Kriminalhauptkommissar, der am zweiten Verhandlungstag als Zeuge geladen war. Wem die Kleidung des Opfers (war es eine Jacke, ein T-Shirt, ein Hemd?) und das Messer herausgegeben wurden, lässt sich nicht sagen. Die Unterschrift: Unleserlich. Drei Jahre hat das Verfahren gedauert. Zunächst war eine Körperverletzung angeklagt. Eine Richterin beim Amtsgericht Emmerich (die Zeugin des zweiten Tages) räumte allerdings ein, dass dem Messerwurf aus dem ersten Stock eines Hauses in den Rücken des Opfers ebensogut auch eine Tötungsabsicht zugrunde liegen könne.