Schreibkraft
Heiner Frost

Das Gegenteil von Monaco

Der Termin stand lange fest. Sechzig Gäste. Standesamtliche Heirat im Schloss, anschließend Kirche.Weiße
Kutsche für das Brautpaar. Dann der gemütliche Teil. Der Termin hat sich leicht verschoben. Die  Modalitäten haben sich ein bisschen geändert. Kann passieren.Vorlauf
Der Termin stand lange fest. Sechzig Gäste. Standesamtliche Heirat im Schloss, anschließend Kirche. Weiße Kutsche für das Brautpaar. Dann der gemütliche Teil. Der Termin hat sich leicht verschoben. Die Modalitäten haben sich ein bisschen geändert. Kann passieren.

Lange her

Zum ersten Mal hat Georg seine Anna gesehen … „das ist jetzt sechzehn Jahre her …“. Georg hatte einen guten Freund, und Anna war die Freundin der Schwester. „Die war damals in festen Händen.“ Georg auch, aber: Die Zeiten ändern sich. Die Freunde auch. Irgendwann vor zwei Jahren besuchte Georg seine Schwester und bekam mit: „Da zieht jemand ein.“ Schicksal. Es war Anna. Die Freundin der Schwester des Freundes. Zufall?
Anna – mittlerweile nicht mehr in festen Händen – zog ein. Mit ihren beiden Kindern. So fing es an. Falsch: So ging es weiter. Jetzt: Der Termin. Mittwoch, 29. Juni, 11 Uhr. Keine Kutsche. Keine Kirche. Sechs Gäste. Ein Erdbeerboden. Keine Girlanden. Keine Kapelle. Für Georg und Anne ist es das erste Mal, und – da ist er sich sicher: Dabei  wird es bleiben. Lebenslänglich mit Ansage.

Denkste

In guten wie in schweren Tagen. Sind das jetzt die Guten? Schwer zu sagen. Stimmt: Es fehlt noch eine Kleinigkeit. Der Rest der Geschichte: Kurz nach dem Polterabend haben sie Georg geholt. Handschellen. „Die Hochzeit war für den 10. Juni geplant. Am 23. Mai bin ich eingefahren.“
Die Bewährung futsch. Jetzt warten ein Jahr und sechs Monate, und die Hochzeit wird im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt stattfinden. „Den Kaffee spendiert die Kantine.“ Sekt? Fehlanzeige. Im Knast herrscht Alkoholverbot. Hochzeitsnacht? Denkste.Georg schläft schlecht in den letzten Tagen. Nervosität kommt auf. „Ich weiß noch nicht, ob ich etwas sagen werde. Ich schreibe ein paar Sachen auf, aber ich habe das Gefühl, das geht dann nur mit Tränen.“ Geheiratet wird in Jeans. „Das Brautkleid bleibt im Schrank bis zum Kirchentermin.“ Der allerdings wird nicht im Knast stattfinden. Georg ist katholisch, Anna evangelisch. „Darauf kommt es am Schluss nicht an. Hauptsache, Gott ist dabei.“ Gott hatte sich zwischenzeitlich aus Georgs Leben verabschiedet. Vielleicht war es eher umgekehrt. Georg hatte Gott Ade gesagt. Das hat sich mit Anna geändert. Durch Anna. Anna ist Georgs Rettung. Selbst die Leute im Knast sagen: „Das ist eine Gute.“ Anna hat sich gekümmert. Sie hat das Bürokratische erledigt. Neuer Termin. Anderer Ort. Anderes Standesamt. Anträge hier, Telefonate dort. Ab Mittwoch werden sie und die beiden Kinder Georgs Namen tragen.

Montage

„Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir mit dem Heiraten gewartet, bis ich wieder draußen bin. Dass wir das jetzt schon machen, hat vor allem was mit den Kindern zu tun.“ Die Ältere wechselt demnächst die Schule. Neustart mit neuem Namen. Die Ältere weiß Bescheid über Georgs derzeitigen Aufenthaltsort. Sie hat gesehen, wie die Polizisten mit der Acht kamen und sie um Georgs Handgelenke legten. Er hat ihr erklärt, was man erklären kann. Scheiße gebaut. Drogen. Jetzt muss er die Strafe aushalten. Für ‘die Kleine’ ist der, den die Kinder längst Papa nennen, auf Montage. Er arbeitet auf einer Baustelle, wo es um Sicherheit geht. Da kommt nicht jeder einfach rein oder raus. Wird denn die Ältere der Kleinen nichts erzählen? „Niemals. Die ist loyal. Die hat auch ihrer Mutter nicht erzählt, was für die ursprüngliche Hochzeit geplant war. Die hält dicht.“
Dass Georg jetzt einsitzt – irgendwie unnötig. Eigentlich. Georg hat mit Drogen nichts  mehr am Hut. Drei Entzüge hat er hinter sich. Beim Dritten hat’s funktioniert. Georg hatte wieder einen Job. „Den werde ich auch noch haben, wenn ich wieder draußen bin.“ Dann trennte er sich von der Ex. Rosenkrieg. Er zog um. Stellte einen Nachsendeantrag. Nur das mit dem Ummelden hat er verschludert. Die Ex hielt seine Post zurück. Georg verpasste einen Gerichtstermin. „Als Zeuge.“ Dann kamen sie und holten ihn. Gleich in Strafhaft. Bewährungswiderruf nennt man das. Es wird nicht lange gefackelt. Es ist Georgs erstes Mal im Knast. Aber jetzt wird erst mal geheiratet. Halt schaffen in der Wirklichkeit. Die Schwiegereltern werden kommen, die beiden Kinder, die Braut. „Und mein bester Freund ist einer der Trauzeugen.“

Fürs Album

„Die Jungs von der Anstaltszeitung sollen was schreiben“, wünscht sich Georg. Das kann er dann später ins Hochzeitsalbum kleben. Dass es nicht leer bleibt. 2.500 Euro wollten Anna und Georg sich den schönsten Tag im Leben kosten lassen. Jetzt wird es billiger. Ein Erdbeerboden kostet nicht die Welt. Durch das Stornieren der Feier sind 400 Euro ‘Verlust’ entstanden.  Hochzeitsreise? „Irgendwann mal. Später.“

Budget

Im Internet finden sich Budgetrechner für Heiratskandidaten. Ausgeben kann man jede Menge. Als Kostenverursacher wären zu nennen: sein Polterabend, ihr Polterabend, Dekoration und Blumenschmuck, Druck- und Portokosten für Einladungs- und Danksagungskarten, Fotos und Videos, Hochzeitskleidung, Schönheitspflege, Ansteckschmuck für den Bräutigam, Schmuck der Braut, Blumenschmuck für die Hochzeitsfahrt, Brautstrauß, Kirchenschmuck, Eheringe und Gravur, Ringkissen, Kleider für die Blumenkinder, Erinnerungsalbum, Programmheft (Kirche), Annonce in der Zeitung, Hochzeitsfotos, Musik … Eine ganze Industrie lebt vom Heiraten. Georg und Anna werden sie nicht brauchen. Platzkarten sind bei sechs Gästen nicht erforderlich. Der Erdbeerboden ist schnell verteilt. Den Kaffee stiftet die Kantine. Die Hochzeitsfotos wird der evangelische Anstaltsgeistliche machen. Keine Kutsche. Keine Kirche. Herzen brauchen kein Budget.
Tief innen sind die Zutaten andere. Es geht um die Liebe. Das Vertrauen. In guten und in schweren Tagen. Da gibt es keine Abstriche. Gott kommt kostenlos. Und was ist das jetzt: Sind es die guten oder die schweren Zeiten? „Das alles kann uns nur stärker machen“.  Georg ist jetzt 36. Wenn alles schlecht läuft, hat er noch 18 Monate abzumachen. Danach der Neustart. Dann kann niemand mehr kommen und ihm die Acht anlegen. Dann bleiben höchstens schlechte Erinnerungen.

Passt

Jetzt erst einmal die Hochzeit. Ein Kollege hat ihm geraten, vorher noch mal kurz zur Kammer zu gehen und die Sachen anzuprobieren. Die ‘Kammer’ ist eine Art Depot der persönlichen Dinge im Knast. Da wird das Leben eingemottet. Gegen Quittung versteht sich. Georg muss nicht in Anstaltskleidung zum Ja-Wort. „Man legt oft zu im Knast und passt plötzlich nicht mehr in die Klamotten“. Bei Georg passt es noch. Morgen also: Er und Anna mit ‘kleinem Besteck’. Zwei Tage später: Traumhochzeit in Monaco. Albert und Charlene. Ein paar mehr Gäste. Ein bisschen mehr Pomp.

Der Tag

Die Anstalt erwacht wie an jedem Tag. Viele wissen nichts von der Hochzeit. Der Beamte im Besuchsbereich trifft erste Vorbereitungen. Es wird eingedeckt: Teller, Tassen, Kaffeekannen. Noch eine Stunde, dann wird der Beamte den Gefangenen aus der Zelle holen – eine halbe Stunde vor Beginn der Zeremonie.
Den Brautstrauß hat der Betreuer der Knastredaktion besorgt: Fünf Sonnenblumen mit Papierrosette. Wird im Knast eigentlich oft geheiratet? „Früher war’s mehr“, sagt einer der Beamten. Genaue Zahlen weiß er nicht. „In manchen Jahren hatten wir bis zu zehn Hochzeiten.“ Das hat nachgelassen.

Liebe also?

Aber da gibt es die Geschichte von einem Gefangenen, der eine Zeitlang bei allen Hochzeiten den Trauzeugen gab. „Der hatte einen weißen Anzug auf der Kammer. Den zog der dann an, und meist kam auch seine Frau.“ Die Motive fürs Heiraten werden unterschiedlich gesehen. „Manche heiraten in U-Haft, weil sie hoffen, dass der Richter das als positiv wertet“, sagt einer der Beamten. „Es gibt auch welche, die heiraten, um die Abschiebung zu vermeiden.“ Alles wie im wirklichen Leben. Georg ist weder in U-Haft noch muss er als Deutscher mit einer Abschiebung rechnen. Liebe also? Das Echte? Oder hat es vielleicht etwas mit der Steuer zu tun? Auch das soll’s ja geben. Hat es nicht. Sagt Georg. Es war ohnehin geplant. Anna ist sein Glücksfall.

Hanuta

Kurz nach halb elf sitzt Georg im Warteraum der Besuchsabteilung. Der Brautstrauß liegt auf einer Bank. „Du hast was bei mir gut“, sagt Robert dem Kollegen von der Knastredaktion. „Da nicht für.“ Gegen zehn vor elf trifft auch die Dame vom Standesamt ein. Sie trägt ein gestreiftes Jackett. Zufall.
Nein, sie ist nicht die, die Georg erwartet hat. Sie heißt nicht soundso, sie heißt anders und hat mit einer Kollegin getauscht. Die Kollegin hat schon öfter Trauungen im Knast gemacht. „Für mich ist es das erste Mal“, sagt sie. „Für mich auch“, sagt Georg. „Ein bisschen Humor muss sein“, sagt sie. „Sonst würde ich weinen“, sagt Georg. Er hat zwei Hanuta dabei. Für die Kinder. Die anderen bekommen ja Kuchen. Dann kommt die Braut: Eine Umarmung auf dem Gang. „Vielleicht möchten Sie ja noch was besprechen“, sagt der Beamte und meint: Wenn es jetzt noch Komplikationen geben sollte, muss er den Rest der Belegschaft gar nicht erst hineinbitten.
Wer zur Hochzeit will, gibt den Pass an der Pforte ab. Gegebenenfalls auch das Handy. Handys sind ein absolutes No-Go. Es gibt keine Komplikationen. Georg und Anna sind noch immer sicher. Die Hochzeit wird stattfinden. Die Gäste können kommen.

Pythagoras

Das hier ist das Gegenteil von Monaco. Albert und Charlene feiern in einem anderen Rahmen und haben noch zwei Tage. Für Georg und Anna hier und jetzt: Ein sachlicher Raum, der ohne Schmuck auskommt. An der Wand neben der Tür: Ein Kalender. Es ist einer von denen, bei denen man ein rotes Rähmchen über die Tage schiebt. Gerahmt ist der 29. Juni. Der Kalender: Ein Werbegeschenk. Jeweils drei Monate auf einem Blatt. Zwischendrin die Zeilen: „Zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“ Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Standesbeamtin beginnt ihr Tun. Sie erklärt, was passieren wird. Sie hat Zitate dabei. Zitate sind wichtig. Auch Pythagoras wird zitiert. Der hat sich Gedanken über kurze Wörter gemacht. Ja und Nein sind kurze Wörter. „Die kürzesten Wörter erfordern das meiste Nachdenken.“ Sagt Pythagoras. Sagt die Standesbeamtin. Und Bushido sagt „In schlechten Zeiten merkst du, wer dich liebt“, sagt Georg.

Ja!

Die Standesbeamtin gerät bei Georgs Nachnamen ins Straucheln. Der Name kommt von woanders. „Das wird mir heute wahrscheinlich noch ein paar Mal passieren“, sagt sie. Es passiert ihr nicht noch einmal. Georg sagt den Namen vor. Sie spricht ihn nach. Ab da geht’s. Sie spricht über die Bedeutung der Ehe, das Besondere des Tages. Alles Präludium. Dann das Entscheidende. Alle stehen auf. Georg sagt Ja. Anna auch. Georg als Erster. Er zögert einen Augenblick. Pointe. „Wenn ich heulen sollte, schreibt das ja nicht“, hat er vorher dem Redakteur von der Knastzeitung gesagt. Die Braut schnieft. Die Kinder auch. (Zur richtigen Zeit am richtigen Ort.)
Auf dem weiß eingedeckten Tisch ein Tetrapack mit Kondensmilch: „Unsere Beste“, steht drauf. Das wird sich auch Georg denken. Ringe werden auf gegenseitige Finger geschoben. Georg hat in der Aufregung vergessen, welche Hand es sein soll. Die Schwiegermutter souffliert. Zur rechten Zeit am richtigen Ort …

Herzlichen Glückwunsch

Anna unterschreibt mit neuem Namen. Sie heißt ab sofort soundso, geborene soundso. Die Zeugen unterschreiben auch. Georgs bestem Freund zittert die Hand. Auch der Beamte schnäuzt sich. Es muss am Wetter liegen. Die Standesbeamtin übergibt ein Familienstammbuch. Sie gratuliert. Kosten der Trauung: 120 Euro. Dann die Umarmungen. Dann Kaffee und Kuchen. Um 12.15 muss die Feier beendet sein. Um 13 Uhr beginnt der normale Besuchsbetrieb. Georg wird zurück auf die Zelle gebracht.