Schreibkraft
Heiner Frost

Das 11. Gebot oder: Die Sucht nach den Karten

Zeit veredelt vieles …

… eine Pils-Dose, heute achtlos weggeworfen, könnte für die Sammler kommender Jahrtausende schnell zum Prunkstück werden — sie muss nur selten genug sein. Aber es muss ja nicht unbedingt die Pils-Dose sein. Wie wär’s mit Postkarten? Uninteressant? Langweilig? Keine Geldanlage? Von wegen! Hans-Gerd Spörkel ist evangelischer Pastor. Spezialgebiet neben dem Biblischen: Postkarten. Nicht irgendwelche. Rees oder Kranenburg mit allen eingemeindeten Unterabteilungen sollten es schon sein.

Man sucht das eine und findet das andere

Wie kommt man zu Postkarte? Bei Hans-Gerd Spörkel fing die Sache mit dem Gemeindearchiv an. Gesucht wurde ein Foto von Spörkels Vorgänger. Und wie es dann so ist: Du suchst das eine und findest das andere. Im Fall Spörkel, der gebürtig aus Ratingen stammt und sich ‚seiner’ Stadt nie heimatlich verbunden fühlte, tauchten Bilder von Haldern auf. Bilder aus längst vergangenen Zeiten, Bilder mit der Patina des Unwiederbringlichen. Und noch eines tauchte auf: Das Wissen, dass viele solcher Schätze mit dem Ableben ihrer Besitzer ein für alle Mal verloren gehen. Wen interessieren schon alte Postkarten im Nachlass?  Spörkel begann sich für die alten Ansichten zu begeistern. Das sprach sich schnell herum: „Der Pastor sucht nach alten Ansichtskarten und Fotos.“ Und so gab es den einen oder anderen Anruf nach dem Motto: „Ich habe da was, das könnte Sie interessieren!“ Und richtig: Die Sache fing an, spannend zu werden und wurde quasi die „Geburtsurkunde des Sammlers Spörkel“.

Zwischen Leidenschaft und klinischem Befund

Heute ist sich der Pfarrer sicher: „Sammler ist man, oder man ist es nicht.“ Ein simpel anmutender Satz nach dem Muster „Wenn es nicht hell ist, dann ist es halt dunkel“? Von wegen. Sammeln — das ist irgendwo zwischen Leidenschaft und klinischem Befund anzusiedeln. Längst nennt Spörkel eine stattliche Zahl von Postkarten sein eigen. Gezählt hat er sie nicht, aber es dürften zwischen 600 und 1.000 sein. Und natürlich ist Hochwürden längst zum Spezialist in Sachen Postkarten geworden. Die „Beschaffung der Objekte“ wird durch verschiedene Konkurrenten erschwert. Postkarten können halt für allerlei sammelndes Volk zum Objekt „kollektiver“ Begierde werden. Die einen – wie Spörkel – haben es auf die Karten selbst abgesehen, andere jagen den Briefmarken nach, wieder andere sind nur scharf auf die Stempel.

Hauptsache gelaufen

Die letzten beiden Spezies haben mit den „Ansichtssachen“ nichts im Sinn. Drauf sein kann, was immer wolle. Hauptsache, das Prädikat lautet: Gelaufen. Und ‚gelaufen‘ steht für: Postalisch unterwegs gewesen. Postkarten, die nie unterwegs waren, verfügen weder über  Stempel noch Marke. Uninteressant für Marken- und Stempelfreaks. In Spörkels Archiv sind somit auch Karten, denen vom Briefmarkenfreak bereits die Seele, sprich: Die Marke abgekratzt: Pardon — abgelöst wurde. (Des einen Freud, das andern Leid.)

Historisch bis hysterisch

Gelaufene Postkarten wiederum sind wie Schnappschüsse von Menschen, die man nie getroffen hat. Da finden sich kurze Grußbotschaften. Da werden Geschichten von Leben und Tod in Sütterlin schwer lesbar offenkundig. Da spielen sich Dramen, Feste, Krankheiten, Nöte und Kriege ab, und alles ist verteilt auf ein paar Quadratzentimeter Kartenplatz. Krakelig auf den einen, gestochen scharf auf den anderen, luftig gesetzt hier und in dicht gedrängten Wort- und Satzkolonnen da: Die Postkarten werden zum gedächtnistragenden und im wahrsten Sinne des Wortes geschichtsträchtigen Medium. Sie treten die Zeugenschaft für Weh und Ach, für Sekt und Selters, für Liebe und Leid an und zeigen auf der Bildseite das, was Spörkel wirklich interessiert: Heimatmotive von schwarzweiß bis  bunt und von historisch bis hysterisch.

Haben, haben, haben

Hans-Gerd Spörkel ist in erster Linie an den Ansichten interessiert und hat sich („Anders geht es nicht“) beschränkt auf die Sammelthemen Rees und Kranenburg. In den Schätzen, die in seinen zig Sammelalben lagern, finden sich alte Ansichten (das Postkartenwesen kam um die 1890er Jahre auf) — aber Spörkel macht auch vor Nachkriegsmotiven nicht halt. „Irgendwann wirst du man vom Virus befallen. Dann gilt: Haben, haben, haben. Wer nicht aufpasst, gleitet schnell ins klinische Stadium des Sammelns.“ (Und das kann teuer werden.) In Zeiten von Ebay und Internet kann auch für einen Pastor das erste Gebot kurzzeitig anders buchstabiert werden: ‚Ein Euro‘ lautet es dann. Drei bis vier Karten die Woche fischt Spörkel bei Auktionen ab. „Je nachdem, wie viele Sammler an einem Thema dran sind, kann eine Karte bis zu 40 Euro kosten“, verrät der er, „und dann gibt’s auch schon mal mehr als die zehn Gebote.“

Manche verstehen nur Bahnhof

Kürzlich tauchte bei einer Versteigerung eine Ansichtskarte des Kranenburger Bahnhofs auf. Spörkel steigerte mit und wunderte sich über das Emporschnellen des Preises. Am Ende ließ er die Karte ’sausen‘. „Da war ein Eisenbahnsammler dran.“ Klar: Es gibt halt Sammler, die verstehen nur Bahnhof. Wenn Spörkel sich bei Ebay einklinkt, wird nach Kreis Kleve, Kranenburg, Rees gesucht. Angebote gibt es reichlich, und zur Freude der Sammler macht mancher Versteigerungsnovize grobe Fehler. Kürzlich fand Spörkel eine Karte unter dem Stichwort „AK Zyfflich“ (Ansichtkarte Zyfflich). Die bekam er für einsfünzig — knapp über dem ersten Gebot, also. Für die Karte wären sicherlich 20 Euro drin gewesen. Falsch beschrieben. Dumm gelaufen: Für den Anbieter. Was das Ersteigern angeht, setzt Hochwürden Limits. Das ist wichtig. „Ohne das geht’s nicht.“ Und Spörkel gehört auch nicht zu denjenigen, die bis zur letzten Sekunde mitbieten. Er gibt sein Limit ein, und wenn die Auktion gelaufen ist, hat’s entweder hingehauen oder eben nicht. Der Markt ist groß. Es gibt riesige Postkartenmessen. Spörkel: „Da kommt man in Köln in den Gürzenich, und alles ist voll mit Ständen.“ El Dorado für die Sammlerseele.

Denkste!

Gibt’s denn für die Postkartenfreaks auch die „Blaue Mauritius“? Nein. Das beruhigt. Allerdings findet sich im Spörkelschen AK-Archiv schon ein äußerst interessantes Stück. „Gruß aus Rees am Rhein“ ist auf der Vorderseite der (nicht gelaufenen) Karte zu finden. Auf der Rückseite folgender Text: „Gaststätte zur Nachtigall, Inh. Hans Berndt und Frau, Rees am Rhein, Ruf 767, Großer Parkplatz, Gesellschaftsraum, Gepflegte Speisen und Getränke“. Eines aber ist für Spörkel sicher: Was vorne zu sehen ist, hat mit Rees nichts zu tun. Also doch eine Art „Fehldruck der besonderen Art“. Als Fotograf ist Ewald Böing angegeben, erschienen ist die Karte im „Verlag Wardthausen, Emmerich am Rhein, Postfach 251“. In Emmerich, so meint man, hätten sie wissen müssen, wie’s in Rees aussieht. Denkste! Der Pastor sammelt weiter, und den Tag, an dem nicht mal bei Ebay reingeschaut wird — den gibt es fast nicht. Wer „in Postkarten macht“, sollte übrigens die alten Postleitzahlen noch kennen, denn viele Anbieter sortieren nach eben diesen Codes. Rees vor der Postleitzahlenreform? Genau: 4242. Und Haldern? 4230.

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