Schreibkraft
Heiner Frost

b. 31 – Im Denken verschwunden

Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg b.31 Obelisco c.: Martin Schläpfer

Youtube macht‘s möglich. Noch einmal in Gedanken in diesen Abend rutschen wie auf frisch geöltem Parkett. Marla Glen: Travel. Ab geht die Post. Was kann erwartet werden nach einer solchen Ouvertüre? Das generelle Entstauben vielleicht. Selten war so viel Freiheit im eigenen Kopf.


Und dann diese Gestalten auf der Bühne – versehen mit Plateauschuhen, die das Tanzen zum prothetischen Akt machen. Kann das sein? Ja. Martin Schläpfers „Obelisco“ kann als Studie über das Verschwinden gelesen werden. So startet b.31 mit einem Geniestreich, der einem das Hirn kahl rasiert. Musik verschwindet im Tanz, Tanz im Raum, Raum im Kopf. Verschwinden im Virtuosen, Verschwinden in Schönheit. Schläpfer jongliert das Nichts und je mehr sich die Klänge ausdünnen, um so mehr fühlt man das Brennglas über der Bühne. Tanzen im Endstadium wird da serviert: Denken und Bewegen auf derselben Bühne. Das hatte man selten so intensiv. Es fühlt sich an, als hätte einer im Hirn von Blaise Pascal einen Tanzfilm gedreht. („Die Logik des Herzens.“) Und während man noch über die Auflösung nachdenkt, zieht sie vollends in den Kopf ein und nistet im Zentrum ein: Lokale Betäubung. Plötzlich ist da nur noch dieses Stück, das so unbeschwert begann und dann an Gewicht gewann. Plötzlich verschwindet man selber im Abend. b.31 – ein Monolith.

Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg
b.31 Obelisco c.: Martin Schläpfer. Foto: Gert Weigelt

Hans van Manens „Adagio Hammerklavier“ würde an einem anderen Abend einschlagen wie sonstwas. Auch van Manen inszeniert das Verschwinden, aber während Schläpfer zum Kern des Tanzes vordringt, wirkt van Manens Adagio Hammerklavier mit einem Mal wie Tanzen mit Messer und Gabel. Nichts reibt sich. Das Stück ist ein Vermächtnis. Alles passt. Alles ist schön. Aber der Virus von Obelisco sitzt wie ein Kuckuck im Hirn. Plötzlich liegen da nur noch fremde Eier im Nest – was man auch ausbrütet: Nichts rettet vor dem Verschwinden – schon gar nicht der Schluss des Abends. „Sh-Boom!“ kommt locker daher, aber wer will schon, dass bei der Beerdigung der eigenen Seligkeit Witze erzählt werden.
Das Publikum, so viel sei gesagt, scheint einen anderen Abend zu erleben. Das Applausometer rückt – heftig ausschlagend und von Hurra-Rufen unterfüttert – van Manen ins Zentrum.  Vielleicht hat man sich geirrt. Hat man nicht. Man ist nur in die Falle des eigenen Erlebens geraten. Man hätte diesen Gedanken nicht aufschreiben sollen: „Eine geniale Etüde über das Verschwinden“.
Würde man den Abend weiterempfehlen? In jedem Fall, denn wieder einmal demonstriert eine Compagnie – das Ballett der Deutschen Oper am Rhein –, dass sie alles drauf hat: Das Ernste, den Slapstick, das Große, das Kleine und … da ist es wieder: Das Verschwinden in der Aufgabe. Natürlich: Auch das Schlussstück des Abends serviert Denken in Bewegung. Vielleicht hätte – dies eine Mal – eine andere Reihenfolge (3,2,1) den Abend zum Triumph gemacht. So wird er zur Falle. Wer am Kraterrand ausrutscht … nein: Nicht weiterdenken. Die anderen haben es doch geschafft, auch in dieser Reihenfolge zu überleben. Alles gut. Die Youtube-Schleife ausschalten. Travel anhalten. Und dann mit der Handkamera im Kopf nochmal durch den Abend gleiten. Das könnte die Rettung sein. Oder: Noch mal hingehen und erst zum zweiten Stück in den Saal schleichen. Aber der Obelisco hat sich ja längst eingerichtet im eigenen Kopf. Er fordert Widerständlichkeiten gegen die Selbstverschwindung und einen Dank ans Schläpferhirn. Derlei Melange wird selten angemischt. Mal sehen, was die anderen verschriftlichen nach einem solchen Abend.

Ach ja: b.31 ist – bezogen auf die Musik – ein Retortenabend. Trotzdem bleiben die Klänge nichts schuldig. Fast hat man den Eindruck, dass dies eine Mal die Abwesenheit des Lebendigen im Orchestergraben das Konzentrat verdichtet.

Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg
b.31 Sh-Boom ch.: Lightfoot/Leon. Foto: Gert Weigelt