Schreibkraft
Heiner Frost

Aus einem anderen Leben

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Die Einladungskarte: Bilder. Text. Zahlen. Spartanisch irgendwie.  Stephan Fritsch – Malerei 1994-1999. Bilder vom Rand des Jahrtausends. Fast schon frühe Bilder – Bilder, die man noch nicht gesehen hatte.

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Zum Auftakt: Ratlosigkeit. Es ist die Ratlosigkeit der unerfüllten Erwartung. Der Fritsch an der Wand ist ein Fremder – einer, den man so nicht gekannt hat. Nicht erlebt. Nicht verdaut. Vielleicht ist es ein anderer Fritsch. Einer, den man nicht gekannt hat. Nicht erlebt. Erfahren. Berührt. Vielleicht ist es der Namensdoppelgänger aus dem Internet: Stephan Fritsch, geboren 1984 in Stralsund. Nein – es passt nicht, was der andere Fritsch da malt. Das lässt sich nicht ineinanderdenken. Dann fällt der Groschen: Was da an der Wand hängt, ist der Fritsch, den man kennt. Den man mag. Den man begriffen zu haben glaubte, bis man diese Bilder sah. Stephan Fritsch, geboren 1962 in Stuttgart, gestorben 2014 in Salzburg. Es ist ein Fritsch der 1990-er Jahre. Einer, der unterwegs war. Wie schnell verwechselt man zeitliche Ebenen mit Qualität. Jeder, denkt man, muss mit den Jahren besser werden. Vielleicht. Man muss sich lösen. Man muss begreifen, dass es um unterschiedliche Stationen geht, unterschiedliche Fragestellungen, unterschiedliche Ansätze. Genau. Darum geht es. Und dann begreift man, dass auch das nicht zählt. Jemand stellt sich nicht plötzlich neue Fragen. Ein Maler ist ein Maler ist ein Maler. Ein Maler ist ein Maler ist ein Eroberer. Ist das hier Malerei aus einem anderen Leben? Natürlich nicht. Es ist Malerei aus einer anderen Zeit. Was Fritsch am Ende seines Lebens virtuos zu beherrschen schien, ist in den 90-er Jahren eine Art Suchprotokoll. Es geht – mehr vielleicht als später – um Grundsätzlichkeiten. Es geht um die Bestimmung der eigenen Position: Zur Form. Zur Farbe. Man steht vor diesen Bildern und fragt sich, wie Fritsch wohl in zehn Jahren gemalt hätte? Aber: Es geht nicht um Hypothesen. Das Geheimnis liegt an eben jenem Punkt, an dem man mit sich selbst einen Standpunkt zu verhandeln hat. Was beim ersten Hinsehen eigenartig vorgekühlt wirkte, nimmt, sobald man sich den Besserwisser ausgetrieben hat, Temperatur an und wird beseelt. Es geht nicht um Vergleiche. Es geht nicht darum, was einer zuerst machte und dann später machte und noch später vielleicht gemacht hätte. Es geht darum, jemanden beim Fragen zu erleben. Im Fragen. Mit dem Fragen. Sind drei Worte mehr als drei Worte?

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Zeit ist ein Continuum, denkt man. Es gibt ein Vorher. Ein Nachher. Wenn man es schafft, im Werk von Fritsch keine Abfolge zu sehen, wenn man es schafft, die Ebenen auszutauschen, ersteht eine völlig andere innere Haltung – sie ermöglicht, das Späte dem Frühen voranzusetzen. Genau dann entsteht Kontakt zu den Arbeiten. Da verdaut einer quasi vor dem Essen. Noch besser als das Nacheinander funktioniert die Gleichzeitigkeit. Es hat nicht das eine zum anderen geführt – es war alles immer gleichzeitig da. Aber niemand kann das Gleichzeitige auch gleichzeitig abrufen, ohne am Überfluss zu ersticken. Die Versuchung: Ein Künstlerleben vom Ende aus zu denken – vorauszusetzen, dass der Endpunkt ein Zielpunkt war. Fritschs Arbeiten aus den 90ern sind nur scheinbar fremd – nur scheinbar aus einem anderen Leben. Was an ihnen fremd wirkt, ist nicht mehr als das Fremdeln, das man selber dabei hat, weil der Fritsch an der Wand einen anderen Dialekt spricht. Wieder dieser Denkfehler: Es ist kein anderer Dialekt. Es ist dieselbe Sprache. Es sind dieselben Worte. Aber es ist nicht derselbe Text.

Wer sich Fritschs Arbeiten aus den 90ern anschaut, darf das eigene Leben dabeihaben, aber es hilft, die Idee vom Continuum zu vergessen. Keine Bilder aus einem anderen Leben. Nichts, was vom Ende aus gedacht werden müsste. Diese Bilder hinter die anderen zu denken – hinter die, die man kennt und als Ziel begriff … Vielleicht nur ein anderer Ausschnitt. Eine andere Frage. Vordenken ist Nachdenken. Fritsch dekliniert Kleinigkeiten auf kleinstem Raum. Da sucht einer die Form seiner Farben. Alles geschieht fast insgeheim. Dem Auge werden Formen angeboten – Formen, um die es nicht geht. Fritsch ist immer auf dem Weg in die Farbe. Die Malerei von 1994 bis 1999: Luftaufnahmen des Späteren als Vorgriff auf das Hinterher. Das Hinterfragen des Gewichts der Worte. Plötzlich „funktionieren“ die Bilder und gerade in dem Augenblick, in dem man über die Liebe auf den zweiten Blick nachdenkt, wird klar: Es ist der erste Blick. Die Ebenen lösen sich auf. Das Denken in Reihenfolgen führt zu keinem Ergebnis. Vielleicht ist das Kunst: An mehreren Zeitpunkten gleichzeitig zu sein …

 

 

 

 

 

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